Frankfurter Rundschau | 27.02.2023 | Politik
Im Libanon gärtnern Hunderte palästinensische Geflüchtete auf Dächern, Balkonen und Feldern, um Elend und Diskriminierung zu entfliehen. Doch nicht alles läuft rund.
Im Labyrinth aus engen, verwinkelten Straßen verschwindet die Sonne, von Tausenden Stromkabeln verdeckt. Willkommen in Bourj el-Barajneh, einem von zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon. Hier, in der Nähe des Flughafens von Beirut, leben 30 000 Menschen auf einem einzigen Quadratkilometer – eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt. Zwischen den einsturzgefährdeten Gebäuden drängt sich das Leben: Die Rufe der Gemüseverkäufer und spielender Kinder, das Hupen von Autos und Scooters schaffen eine hektische Atmosphäre.
Um den erdrückenden Gassen zu entkommen, muss man nur ein paar Treppenstufen nach oben steigen. Auf einigen Dächern blühen regelrechte Oasen. Blumen, Sträucher und Kakteen wachsen neben Tomaten, Gurken, Auberginen, Feigen und Kräutern, die in Kübeln gepflanzt sind. „Es ist ein gutes Gefühl, hierher zu kommen und meine Pflanzen zu züchten- ich liebe sie alle gleich“, sagt Maha Mohammad Dabdoub, eine junge Palästinenserin. „Seit meiner Scheidung und der Ausreise meiner Brüder nach Europa lebte ich zurückgezogen zu Hause. Dieser Dachgarten hat es mir erlaubt, erneut Freunde einzuladen und das Leben zu genießen.“
Maha und mehr als hundert andere Menschen haben mit Hilfe Jafras, einer lokalen Nichtregierungsorganisation, landesweit Gärten und Gemüsebeete auf ihren Dächern angelegt. Seit fast drei Jahren dient deren Hauptsitz in Bourj el-Barajneh als Labor, in dem mit Bewässerung, Kompostierung und sogar Hühnerzuchttechniken experimentiert wird. Es ist ganz einfach: Die Bewohner:innen nehmen an Workshops und Schulungen teil, und dann hilft Jafra ihnen, Behälter, Erde und Saatgut – und sogar Kompostierer und Frischwasserversorgung – in ihren Häusern aufzustellen.
Palästinensische Flüchtlinge leben hier unter extrem schlechten Bedingungen
Nach diesem Modell sind im ganzen Land Dachgärten entstanden, von denen es inzwischen mehrere hundert gibt, von Norden bis Süden. Diese Initiativen haben seit Beginn der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die den Libanon erschüttert und die zu den schlimmsten der Welt gehört, an Bedeutung gewonnen: Angesichts der Abwertung des libanesischen Pfunds und der Inflation haben viele Menschen den Konsum von Obst und Gemüse eingeschränkt.
„Dachgärten helfen ganzen Familien, sich zu ernähren und dabei Geld zu sparen, und geben ihnen wichtige Vitamine“, erklärt Patricia Van Muylder, die Kommunikationsbeauftragte von Jafra. Das bestätigt auch Abeer Youssef el-Kai, eine Mutter von fünf Kindern. „Wir haben den ganzen Ramadan hindurch den Mloukhié (einen Gemüsekranz, Anm. d. Red.) aus dem Garten gekocht, damit spare ich 10 bis 15 Dollar im Monat.“ Das entspricht einem Drittel des libanesischen Mindestlohns. Ihr Garten ermöglicht es ihr auch, Zierpflanzen über Instagram an Privatpersonen zu verkaufen, um sich ein kleines Einkommen zu sichern.
Das ist keine kleine Sache: Palästinensische Flüchtlinge leben hier unter extrem schlechten Bedingungen. Viele Arbeitsplätze sind ihnen verwehrt, ihre Arbeitslosenquote liegt bei über 60 Prozent. Angesichts der Diskriminierung, des Traumas und des Gefühls der Beengtheit sind Gärten ein wertvoller Ausweg. „Ich habe in meinem Leben zu viele grausame Dinge gesehen. Wenn ich hierher komme, habe ich das Gefühl, dass ich dem Meer gegenüberstehe und alles vergesse“, sagt Abdallah Mahmoud Ashweh. Der Veteran der Fatah, der politischen Bewegung, die im Westjordanland unter Mahmoud Abbas regiert, trägt eine gelbe Mütze mit dem Bildnis des legendären Anführers Jassir Arafat auf dem Kopf.
In den Lagern ist das fließende Wasser salzig und verschmutzt, die Einfuhr von Frischwasser teuer
Ohne Stolz zeigt er seine beiden Narben: Er kämpfte während der israelischen Invasion Beiruts 1982 und dem „Krieg der Lager“ gegen die islamistischen Milizen der Amal und Hisbollah für die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). „Die Arbeit auf dem Land besänftigt das Trauma und bringt mich zurück zu meinen Wurzeln“, sagt er und zeigt uns seine Paprika, Auberginen und seine Loubié (Bohnen, Anm. d. Red.). Nach der Nakba („Katastrophe“) von 1948 (dem israelisch-palästinensischen Krieg von 1948) sollten eilig errichtete Lager die Zehntausenden Geflüchteten nur vorübergehend aufnehmen. Doch durften die Palästinenser:innen nie zurück, und drei Generationen von ihnen sind in den Lagern aufgewachsen – zwischen 250 000 und 500000 staatenlose Menschen, denen sowohl die libanesische Staatsangehörigkeit als auch die meisten ihrer politischen Rechte verwehrt sind.
Deswegen stoßen diejenigen, die sich in ihren Häusern Garten anpflanzen möchten, auf zahlreiche Hindernisse. Zunächst der Zugang zum Wasser: In den Lagern ist das fließende Wasser salzig und verschmutzt, die Einfuhr von Frischwasser teuer. In Schatila, einem nur wenige Kilometer entfernten Flüchtlingslager, seien viele Pflanzen vertrocknet, weil die Menschen das frische Wasser für ihren eigenen Bedarf aufbewahren mussten, seufzt Patricia van Muylder. Außerdem ist es in den engen Gassen und den überfüllten Wohnungen schwierig, Pflanzgefäße und Erde aufzustellen.
„Korruption und die Unfähigkeit einiger NGOs sind auch nicht gerade hilfreich“, kritisiert Ahmad Hamoud – seinen richtigen Namen will er aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgeben. Er arbeitet für die US-amerikanische NGO „Anera“ in Nahr el-Bared, einem Lager im Norden des Landes. Seit einem einmonatigen Krieg zwischen der libanesischen Armee und einer islamistischen Miliz im Jahr 2007 wird es von der Armee als militarisierte Zone verwaltet. „Die Korruption und Gewalt sind immens, es ist wirklich ein gesetzloser Ort, der von der Außenwelt abgeschnitten ist“, sagt Ahmad. Er berichtet von den schwierigen Arbeitsbedingungen bei minimaler Entlohnung: „Wir trugen 30 bis 50 Kilogramm schwere Säcke mehrere Treppen hinauf, nur um festzustellen, dass die Pflanzen, die wir einpflanzen sollten, verrottet waren.“
Das Modell der Dachgärten ist nicht immer praktikabel oder nützlich
Außerdem seien auf dem Gelände der Anera Fässer mit Sand verschwunden, obwohl es sich um ein Hochsicherheitsgelände handelt. „Sie waren mehrere hundert Dollar wert, ganz klar wurden sie auf dem Schwarzmarkt verkauft, um Profit zu machen“, vermutet er. Das Projekt ist bereits nach wenigen Monaten gescheitert, „weil es keine Folgemaßnahmen und keine Transparenz gab“. Wiederholte Kontaktanfragen im Zuge der Recherche für diesen Text hat Anera nicht beantwortet.
Das Modell der Dachgärten ist nicht immer praktikabel oder nützlich. „Diese Projekte sind für die Geldgeber sexy, aber im Wesentlichen kosmetisch und alles andere als nachhaltig“, kritisiert Bashar Abu Seifan, ein Aktivist und Mitbegründer der „Landwirtschaftsbewegung“ im Norden des Landes.
Für ihn wäre es notwendig, in echte landwirtschaftliche Flächen und kollektive Felder zu investieren. „Für das gleiche Geld hat ein Feld viel höhere Erträge in Bezug auf Menge und Nährstoffqualität, weil die Pflanzen in Symbiose mit dem Boden und ihrem gesamten Ökosystem stehen“, erklärt er. „Ganz zu schweigen davon, dass sie kollektiv und nicht nur für eine einzelne Familie bewirtschaftet werden.“
Für Abu Seifan ist der individualistische und apolitische Ansatz der NGO-Projekte zu bemängeln. „Anstatt gesellschaftliche und kollektive Lösungen anzubieten, finanzieren sie ein unternehmerisches Modell, das die Last auf Einzelpersonen abwälzt“ sagt er mit Blick auf die isolierten Gärten. Dabei trete die palästinensische Problematik in den Hintergrund und werde entpolitisiert.

Seine Organisation hat einen Kleinkrieg gegen ihre Spender geführt, indem sie sich weigerte, ausschließlich Dachgärten zu bauen. Stattdessen hat sie ein 10 000 Quadratmeter großes Feld in der Nähe des palästinensischen Flüchtlingslagers Beddawi in Tripoli übernommen, der zweitgrößten Stadt des Landes. Dort bewirtschaften palästinensische, syrische und libanesische Bewohner:innen verfeindeter Stadtviertel das Land gemeinsam. „Wir sind alle gleich, wenn es um das Land geht“, sagt Nidal Hassan, einer der Betreuer. „Wir überwinden politische Trennungen und Diskriminierung, und die ganze Gemeinschaft profitiert davon.“ Das Feld decke den gesamten Nahrungsmittelbedarf aller Personen, die dort arbeiteten.
Aber das Projekt wartet jetzt auf Geld, und die Pflanzen vertrocknen. „Diese Abhängigkeit von NGOs und Finanzierungen ist wirklich frustrierend, wir haben wegen Geldmangel vier ganze Ernten verloren“, kritisiert er. In Abwesenheit einer gewählten Regierung und einer Umverteilungspolitik im Libanon bleibt nur noch die weltweite Diaspora, die bei der Beschaffung von Mitteln helfen kann – wie ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde.
Diese Erfahrung machte auch Zahiah Merhi. Die Frau mit dem strahlenden Lächeln lebt im Lager Bourj es-Shemali im Süden des Landes. Dort bewirtschaftet sie den Garten ihrer libanesischen Schwiegereltern, die im Exil leben. „Dieses Land gehört mir nicht direkt, aber es ist wie meine Heimat“, sagt sie. Und das aus gutem Grund: Palästinenser:innen haben im Libanon keine Eigentumsrechte, da ihre Ansiedlung nur vorübergehend sein sollte. Zahiah gehört zur ersten Generation von Ausgewanderten, die 1948 während der Nakba (dem Krieg) geflohen sind: Sie war sechs Jahre alt, als sie und ihre Eltern auf der Suche nach einem sicheren Ort in den Libanon kamen.
„Ich verbringe hier lange Stunden nach Sonnenuntergang mit meiner Familie“, sagt Zahiah
Sie selbst hat ihr Leben lang auf den Feldern libanesischer Großgrundbesitzer gearbeitet, bevor ihre Kinder sie ermutigten, sich zur Ruhe zu setzen. „Ich wollte nicht untätig bleiben, also bewirtschafte ich seitdem diesen Garten mit den Techniken, die ich von meinen Eltern gelernt und an meine Kinder weitergegeben habe“, sagt sie. Die palästinensische Identität ist tief in der Landwirtschaft verwurzelt, und das mythische Bild der Fellahin, der Bauern, wird in Poesie, Musik und Kunst besungen. Und diese Verbundenheit mit dem Land ihrer Vorfahren ist für viele Palästinenser:innen immer noch wichtig. Obwohl das Leben in den Lagern in Beirut weitgehend städtisch ist, arbeiten sie im Südlibanon immer noch überwiegend in der Landwirtschaft, vor allem die Frauen.
Nach der Zubereitung von Mansaf, einem traditionellen Gericht aus Reis mit Fleisch und Cashewkernen, setzt sich Zahiah mit anderen Frauen ihrer Familie in den Garten, um die Wasserpfeife zu rauchen. „Ich verbringe hier lange Stunden nach Sonnenuntergang mit meiner Familie und meinen Nachbarn. Das erinnert mich an meine Kindheit in Palästina und an die Weizenfelder meiner Eltern“, sagt sie und blickt auf ihre grüne Oase, die von Beton, Stromkabeln und palästinensischen Flaggen umgeben ist.
Mitarbeit: Sarah Kabout, Jihad Moussa und Rabih Hajjo