This article was published in the May 2016 Edition of Der Parvenu. 

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St. Thomas von Aquin. Einen heute fast unbekannten Namen, der jedoch im hohen Mittelalter eine wichtige Entwicklung der europäischen Denkweise hervorbrachte. Denn indem der 1253 in Aquino (Italien) gebürtige Theologe versuchte, sowohl Aristoteles’ und Platos Werke mit der christlichen Lehre Christi zu versöhnen, wurde er zum aktivsten Denker der Scholastik. Der Leser muss sich merken: der Mittelalter war keinswegs die dunkle, mystische, blutbegossene Epoche der Barbaren und Drachenkämpfer, wie Hollywood sie uns gerne verkaufen würde. Kriege, Pest, und Fanatismus gab es schon, aber nicht nur- eine geistige Wiedergeburt der Philosophie, auch. Solch heftige Debatten, in denen die intellektuelle Kreise der 1270-Jahre viel Tinte vergossen, hatte man seit der Zeit des Augustinus, im 5. Jahrhundert, nicht gesehen. Kann man Gott’s Existenz beweisen? Ist die Seele unsterblich? Ist der Mensch eher göttlicher oder tierischer Natur? Gibt es eine ontologische Existenz aller Dinge? Diese Fragen erscheinen heute als Abstrakt und sogar als Widernützlich- doch nur, weil sich die Philosophen und Theologen des Mittelalters damit befasst haben. Man übersetzte Aristoteles, Plato, Epikur, sowie ihren arabische Kommentatoren, wie Averroës oder Avicennes, auf lateinisch, und entdeckte die heidnische und muslimische Philosophie wieder. Man kommentierte die Übersetzungen, kommentierte die Kommentare und dessen Kommentare. Sowie heute jeder Politiker eine Biografie geschrieben haben muss, so musste zur Zeit jeder Magister oder Professor ein Text kommentieren.

So kommentierte Thomas von Aquin, kommentierte und kommentierte. Doch die Kommentare waren nur der Grundstein seines Werkes, denn über ihnen herrschen die Summen, wie der Kaiser über sein Reich. Summen waren allumfassende philosophische, theologische, metaphysische, naturwissenschaftliche Systeme, die als Lehrbücher gedacht waren, heute jedoch als Meisterwerke des Denkens gesehen werden, ihrer Struktur und Abstraktionsgräde nach mit Kathedralen verglichen. Und inmitten den Kommentaren, Summen und Lehrbücher, ganz klein in der Mitte stehend, ein dünnes, schägliches Buch: “De regnum principum”. Nicht mehr als 150 Seiten enthaltend, der Gattung des Fürstenspiegels (kleine, den Herrschenden gewidmete Politikwissenschaftsbücher, die die “best practices” der Herrschaft erklärten) angehörend, scheint es ganz außer Platz. Einige Passagen des Textes auch: zum Beispiel erläutert Thomas mehr als 15 Seiten lang, in welcher Höhe, welche Richtung erblickend, in welcher Ferne eines Waldes oder eines Gebirges, eine Stadt gebaut sein sollte, auch wie rein die Luft, wie Nebelfrei die Gegend, wie grün und wie warm das ausgesuchte Land.

 

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Die angesprochene Ideen scheinen uns manchmal auch simpel und naiv. Das Ziel Thomas’ ist, dem König Zyperns das gute Regieren zu erklären. In einer Zeit, in der arbiträre Monarchien die Norm waren, konnten sich die Untertanen nichts weiteres erhoffen, als eine nicht zu schlechte Herrschaft, da sie  die Regierung nicht wirklich aussuchen konnten, im Land ganz besonders. Da man sich nur schwierigerweise eines Tyrannen befreien konnte, musste man meist die Lage akzeptieren. Denn anders als heute konnte die Macht des Monarchen auf viele Arten der Legitimation beruhen. Er hatte zugang zum Militär, und konnte dank eigener oder söldnerische Truppen Aufstände niederwerfen. Er besaß auch die Produktionsmitteln und die Kraft, Steuern einzusammeln. Aber vor allem konnte er seine Herrschaft durch Gott und Gewohnheit bekräftigen. Den nur das Neue, oder mindestens, das in der Weise Empfundene, kann den Menschen außer Ruhe bringen. So sind oft ausländerische Augen oder neue Ideen die Einzigen, die eine als ungerecht Empfunde, etablierte Macht in Frage stellen. Und indem die mittelalterliche Gesellschaft so ziemlich hermetisch war, musste man oft darauf verzichten. Aber wichtiger noch war Gottes Gnade. So schreibt Thomas von Aquin “göttliche Rolle des Königs”: Der König war für ihn sozusagen die Hand Gottes, um Frieden und Einheit in sein Land zu sichern. Denn nur durch materielle Begünstigung und Sicherheit könnten die Bürger nach seeligen Frieden streben. Diese Anschauung Gottes sei der Zweck der menschlichen Existenz, die dadurch mit Glückseligkeit gesegnet würde. Im Falle einer gerechten Herrschaft klingt das gut, aber was nun im Falle einer Tyrannei?

Thomas von Aquin schreibt eindeutig: “Passage über den Königsmord”. So sollte kein Einzelner einen König ermorden; lieber sollten die Bürger gemeinsam handeln, um einen darauf folgenden Bürgerkrieg und Instabilität zu verhindern. Denn sonst, warnt von Aquin, könnte ein neuer Tyrann die Herrschaft übernehmen, die dann schlimmer wäre, als die Vorige. Die Königsmord-Passage ist relativ kurz und simpel, jedoch ist sie Revolutionär. Denn so beschenkt Thomas das Volke mit dem Prinzip der Selbstbefreiung im Falle einer schlechten Regierung, d.h., eine, die das Volk erpresst, nur nach das Wohlbefinden des Herrschers strebt, und den Bürgern die Suche nach Glückseligkeit nicht ermöglicht. Denn solange ein König gerecht regiert, ist er von Gott gesegnet, da Gerechtigheit im Sinne Thomas’s das Vollbringen der göttlichen, moralischen und intellektuelle Tugenden des Königs (und der Menschen) sei. Aber sogleich er sich dem Wege Gottes entfernt, dürfen die Bürger, als autonome und soziale Wesen, entscheiden, ob sie weiterhin die Herrschaft des Tyrannen akzeptieren, oder nicht. Dies führt zu bahnbrechende Konzequenzen zur Natur der Macht, und deren Legitimierung.

Entscheident ist, das die Bürger das Gesetz des Fürstens nicht unbedingt unterordnet sind. Dem Wille Gottes aber, natürlich. So kann man drei Stufen der Normengebung unterscheiden. Die göttliche Gesetze, die alles bedingen; die menschliche Natur; und letztendlich die Gesetze des Fürsten. So kann man schon bei Aquin die Dichotomie zwischen Grundrecht (der Natur des Menschens nach) und positives Recht (der Herrschaft) erkennen. Dieses Naturrecht des Menschen wird in De regnum principum nie direkt erwähnt, jedoch lässt es sich aus mehrere Aussagen Aquins folgen. Aber der Leser muss hier Acht geben: Unserer modernen, laïzistischen Befassung der Grundrechte ähnelt es nur wenig. Erstens, weil Thomas von Aquin ein Grundrecht der Gesellschaft eher als einer des Individuuen einsieht. Der Mensch ist ein soziales Wesen, der zum friedlichen Leben innerhalb einer Gesellschaft bedingt ist. Freiheit ist für Aquin dem Zusammenleben eine Gefahr eher als ein erwünschten Zweck, da er nach Einzelwohl strebende Mensch Ursache der Gier, der Gespaltenheit und der Kriege sei. Im Kontext waren solche Bemühungen, den Allgemeinwohl eher als den Einzelwohl zu sichern, nur logisch. Frieden und Glückseligkeit waren Aquin nach die Ziele einer guten Gesellschaft, nicht Freiheit und materielles Wohlbefinden.

Außerdem sei der Mensch nur im Rahmen der göttlichen Schöpfung frei; nur durch moralisches und seeliges Handeln könnte er Glück finden, so Thomas von Aquin. Eine gute Gesellschaft sei also vor allem religiös und sittlich, und bilde ein organisches Wesen. Nur durch Gehorsam an den Gesetzen Gottes und durch Tugend könnten die Bürger den Recht auf Grundrechte erlangen; welche also der Vollendung der Natur der Bürger bedingt seien. So sollten die Bürger authentisch, ihrer Natur nach handeln. So erscheint bei Aquin keine Dichotomie zwischen Gesellschaft und Natur, Mensch und Moral: alles sei ein natürliches Gebilde. Thomas von Aquin begründet hier sozusagen eine katholische Tradition der  religiösen Menschenrechte. De regnum prinzipum kann man also weitreichendere Lehren anordnen, als bei ersten Blick gedacht.

Jedoch mangelt der religiösen Begründung der Menschenrechte an Toleranz. Denn Von Aquin befürwortete auch öffentlich die Verfolgung der Heretiker und die Aktivitäten der Inquisition. Indem er die Grundrechte der Religion anordnete, verloren sie an Soveränität, und konnten von der Kirche beseitigt sein. Die Idee der Unantastbarkeit der Menschlichen Würde gebar durch die, von den Humanisten ausgeübte, Kritik am Thomismus. Indem diese Gruppe Intellektuellen die Schriften des Aristoteles, der durch seine Beschreibung der vernünftigen Natur des Menschen Thomas von Aquin als Vorbild diente, als Originalien wiederentdeckten, trennten sie Natur von Religion. So emanzipierten sich während der Renaissance die Grundrechte jeglicher religiöser Begründung, und wurden dann zu den heute noch bewunderten (aber seltener respektierten) Menschenrechte des Locke, Rousseau und Montesquieu.

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