Frankfurter Rundschau | 14.4.2023 | Politik

Im Libanon versuchen die Menschen trotz der grassierenden Not, ihre Tradition zu leben – doch der Zorn auf die Eliten ist groß. Ein Besuch im Fastenmonat Ramadan.

Es ist Mittag. Hier in Kura, einem Vorort der zweitgrößten libanesischen Stadt Tripoli, herrscht die Stille der nahen Olivenhaine und des Mittelmeers. Sanfte Sonnenstrahlen dringen in Rania Jalal Soufis Wohnung und durchbrechen die Dunkelheit, die gerade wegen der Stromausfälle herrscht. Die freiberufliche Immobilienmaklerin fastet seit Sonnenaufgang und bereitet jetzt schon das Iftar-Essen für das Fastenbrechen nach dem Sonnenuntergang vor. „Ich bin zwar nicht sehr religiös, trage kein Kopftuch und bete auch nicht jeden Tag, doch als Muslimin ist das Fasten für mich wichtig“, erklärt die 40-Jährige.

Aus der Küche kommen verlockende Düfte: Heute stehen nicht nur die traditionelle Schorba (Linsensuppe) und arabische Süßigkeiten auf dem Menü, sondern zur Abwechslung mal Hamburger mit Pommes. „Ich bereite kleine Mengen zu, weil ich nur mit meinem Sohn und meiner Tochter das Fasten breche – und wir uns eh nicht mehr leisten können“, erklärt die alleinerziehende Mutter. „Ich fahre auch nicht mehr zu meiner Familie nach Tripoli, weil das Benzin zu teuer geworden ist“, seufzt sie. Ihr Ehemann arbeitet in Bahrain und schickt der Familie Geld, aber wegen der Hyperinflation im Libanon hat die Familie trotzdem an Kaufkraft verloren.

98 Prozent Wertverlust der Währung

Das Land der Zedern steckt bereits seit Jahrzehnten wegen seines neoliberalen Wirtschaftsmodells und der Elitenkorruption in einer latenten Krise, die seit 2019 offen ausgebrochen ist. Laut Weltbank handelt es sich um „eine der schlimmsten Krisen weltweit seit zwei Jahrhunderten“. Die libanesische Lira hat bereits 98 Prozent ihres Wertes verloren, und die Preise von Grundnahrungsmitteln sind allein in diesem Februar um 260 Prozent gestiegen. Vier von fünf Menschen im Libanon leben in multidimensionaler Armut, die meisten müssen mindestens eine Mahlzeit am Tag überspringen. „Umm al faqira“ („Mutter der Armen“) wird die Stadt Tripoli von ihren 300 000 Einwohner:innen genannt – und eine Fahrt ins Stadtzentrum zeigt, warum.

Die reichlich verzierten Fassaden Zehriehs, ein einst wohlhabendes Viertel aus der Zeit des französischen Kolonialmandats (1916 bis 1943), sind wegen der Verschmutzung geschwärzt, Elektrokabel hängen in der Luft. Die Menschen, die hier leben, können als Proletariat gelten – ihre Monatslöhne übertreffen nicht 50 Dollar, die meisten arbeiten schwarz und tagesabhängig.

In Zehrieh befinden sich aber auch einige der berühmtesten Süßigkeitenläden der Stadt, die bereits Stunden vor dem Fastenbrechen von Menschen aller Schichten überrannt werden. „Tripoli ist in ganz Libanon für die Qualität und Vielfalt seines arabischen Gebäcks berühmt“, sagt Jihad Harmoush mit Stolz. „Und ganz besonders während des Ramadans sind sie unverzichtbar.“ Der 50-Jährige leitet den Laden „Malak al Halawyiet“ („König der Süßigkeiten“), in dem sich die Leckereien stapeln.

Hilfsorganisationen unter Druck

Besonders für den Ramadan wird Karbouj zubereitet (Pistazien- oder Nuss-Teig mit hausgemachter Schlagsahne). „Aber die Zutaten sind alle viel teurer geworden“, seufzt der Händler, „dazu müssen wir sie direkt in Dollar bezahlen: Jetzt kostet ein Kilo Karbouj mehr als eine Million Lira (rund zehn Dollar), was dem Mindestlohn entspricht! Vor der Krise konnten unsere Kunden kiloweise bestellen, jetzt kaufen sie nur noch kleine Mengen.“ Das ist besonders tragisch, weil viele Läden während des Ramadans ein halbes Jahreseinkommen erwirtschaften. Sein eigenes Gehalt sei von 2 000 auf 200 Dollar geschrumpft.

In der Krise spielen Nichtregierungsorganisationen eine große Rolle. „Vor drei Jahren unterstützten wir 5000 Familien, jetzt sind es mehr als 20 000“, berichtet Hala Karame, Mitarbeiterin von Sanabel an-Nour, einer islamischen NGO, die unter anderem Essensausgaben organisiert. Während des Ramadans ist für Muslim:innen unausweichlich, die Zakat (Spenden an Bedürftige) zu geben, daher ist der Monat für NGOs besonders wichtig. „Wir wurden vor dreißig Jahren während des Ramadans gegründet, auch heute müssen wir während des Heiligen Monats viel helfen: Die Leute können sich kaum Gaskanister zum Kochen und Grundnahrungsmittel leisten“, erklärt sie. Gas kostet mehr als der Mindestlohn: „Jetzt müssen wir sogar dem ehemaligen Mittelstand helfen: Seit 2022 versorgen wir auch Lehrer und Staatsangestellte.“

Gebetsgesang des Muezzins

Die untergehende Sonne taucht Tripolis Altstadt in ein rotes Licht, aus den Moscheen dringt Gesang. Von der Kreuzfahrerfestung auf dem Hügel reicht der Blick über Minarette und Kirchtürme bis zum Hafen. Direkt unter ihrer Mauer brodeln die Souks (Straßenmärkte) vor fieberhafter Aktivität: In einigen Minuten ist Iftar. Die Nachzügler kaufen die letzten Zutaten für das Fastenessen ein. Die Arkaden, Bäder, Moscheen und verschlungenen Gassen wurden zur Zeit der Mameluken gebaut (1250 bis 1514) und beherbergen heute noch Gemüsehändler, Fleischereien, Schmuck- und Seifenhersteller. Dann erklingt der Gebetsgesang: Es ist Zeit für Iftar.

Fadia al-Jamil, eine syrische Frau aus einem Dorf nahe Aleppo, beeilt sich mit den anderen Frauen ihres Haushalts, um die Gerichte rechtzeitig zu servieren. In ihrem Haus sitzt die gesamte Familie samt Gästen nach traditioneller beduinischer Art auf dem Boden um eine Tischdecke, die mit bunten Speisen bedeckt ist. Sobald der Gesang der Muezzins endet, trinken die Fastenden ein Glas Wasser, kosten eine Dattel und schlucken die traditionelle Linsensuppe hinunter. Danach gibt es Tabbouleh-Salat, Sambusik (Teigwaren gefüllt mit Käse oder gewürztem Hackfleisch), Fatteh (ein Gericht aus Joghurt, Kichererbsen und frittiertem Fladenbrot), Foul (Favabohnen in Tahini-Soße), vegetarische Boulghour-Kibbeh und Pommes: Die Familie versucht, trotz der Krise ihre Traditionen zu erhalten.

Tripoli: Ärmste Stadt im Mittelmeerraum

Viele Einwohner:innen der Altstadt sind syrische Kriegsgeflüchtete, aber viele Männer aus Fadias Familie arbeiten bereits seit 40 Jahren hier. Denn die Beziehungen zwischen Tripoli und Syrien sind alt. Vor dem französischen Mandat und der libanesischen Staatsgründung 1946 war Tripoli eine blühende Stadt im osmanisch beherrschten Syrien. Es gab eine Straßenbahn, 40 Kinos, Theater und eine Zugverbindung nach Damaskus und Bagdad. Als die französische Besatzungsmacht 1926 auf Nachfrage der christlichen Maroniten entschied, die Republik Großlibanon auszurufen und die Hauptstadt nach Beirut zu verlegen, begann der Zerfall.

Nach Jahren der Zentralisierung, der Korruption und des Bürgerkriegs (1975 bis 1995) ist sie heute als ärmste Stadt des mediterranen Raums bekannt. Viele reiche Politiker und Geschäftsleute, wie Premier Najib Mikati, stammen von hier – während geschätzte 90 Prozent der Tripolitaner:innen in Armut leben. „Die regierenden Eliten führen einen wirtschaftlichen Krieg gegen uns. Ihre Waffe ist der Hunger und die Inflation“, kritisiert Abdelrahman. Der 20-jährige Gemüseverkäufer sitzt mit seinen Freunden in Ahwet Moussa, einem historischen Café der Altstadt.

Nach dem Fastenbrechen und dem Abendgebet kommen viele Tripolitaner:innen zu dem großen Platz, der mit Laternen und Bäumen umgeben ist, um Shisha zu rauchen und süßen Tee oder Kaffee mit Kardamom zu trinken. Hier wird viel Karten gespielt, gelacht, aber auch über Politik geredet. Während der Thawra (Revolution) 2019 wurde „die Mutter der Armen“ wegen seiner Demonstrant:innen auch als „Braut der Revolution“ bekannt.

Armee und Polizei gegen die Proteste

„Wir waren alle Teil der Proteste gegen das politische System. Auf Befehl der Regierung wurden wir von der Armee und der Polizei mit Gummigeschossen und sogar Sturmgewehren beschossen“, erinnert sich Abdelrahman und zeigt eine Narbe am Bein. Jamal, der als der „tripolitanische Che Guevara“ bekannt ist, erinnert sich: „Ich bin sogar klinisch gestorben, als eine M16-Kugel durch mein Herz ging, und erwachte nach einer Operation am offenen Herzen und fünf Tagen Koma wieder.“ Vergangenes Jahr wollte er auf einem Boot nach Europa fliehen, das angeblich von der Armee gekapert und versenkt wurde. „Wir haben dem Tod in die Augen geschaut“, sagt er nüchtern.

Die Freundesgruppe ist sich einig: Dieses Jahr ist die Ramadan-Stimmung wegen der Krise lau. „Trotzdem freuen wir uns wirklich, Ramadan ist eine Zeit des Glücks, des Zusammenseins. Wir in Tripoli halten zusammen“, meint Abdelrahman. Die Familien werden bis spät in die Nacht traditionelle Kaake essen (Sesam-Brötchen mit geschmolzenem Käse), eine andere tripolitanische Spezialität, die frisch in nahegelegenen Öfen gebacken wird. Bei Sonnenaufgang fängt dann ein neuer Tag Fasten an – voller Wut und Freude zugleich.

Mitarbeit: Rayanne Tawil

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