Frankfurter Rundschau | 5. Dezember 2022 | Umwelt
Erdöl und Erdgas sollen dem Libanon aus seiner Krise helfen. Umweltgruppen schlagen Alarm.
Zwischen dem türkisfarbenen Meer und grünen Olivenhainen liegt die libanesische Stadt Naqoura, direkt an der Grenze zu Israel. Hier herrscht gewisse Aufregung, seit Israel und der verfeindete Libanon Ende Oktober ein Abkommen über die Festlegung ihrer Seegrenze unterzeichnet haben – aber nicht um Frieden zu schließen, sondern um Erdgas und -öl zu fördern.
Hier, bei Naqoura, will der Libanon an die Rohstoffe ran. Die Explorationsarbeiten sollen bereits Anfang 2023 starten und die mögliche Förderung von 2029 bis 2049 dauern. Im „Block 9“ vor Naqouras Küste, einem Teil der libanesischen maritimen Wirtschaftszone, wird etwa der französische Großkonzern Total Energies ein Konsortium leiten und das Ganze übernehmen, zusammen mit der italienischen ENI und Qatar Energy. Weitere Meeresgebiete könnten ebenfalls bald zur Exploration freigegeben werden.
Die politischen Eliten im Libanon, der sich seit 2019 in der größten wirtschaftlichen und sozialen Krise seit zwei Jahrhunderten befindet, versprechen Wunder: Einnahmen von acht Milliarden Dollar sollen das Land sanieren und eine kontinuierliche Stromversorgung gewährleisten, während der Staat Energie heute nur noch für maximal zwei Stunden am Tag produziert. Der kürzlich aus dem Amt geschiedene Präsident Michel Aoun feierte den einzigen Sieg seiner ansonsten katastrophalen Amtszeit, indem er behauptete, den Libanon in den „Club der Exportländer“ geführt zu haben.
Dem Libanon soll das „schwarze Gold“ aus der Wirtschaftskrise helfen
Die Effekte vor Ort könnten beträchtlich sein: 6000 langfristige Arbeitsplätze und indirekte Einnahmen durch Tourismus und Industrie sind möglich und vielleicht sogar genügend Einkünfte, um in andere Energieformen zu investieren. In Naqoura hoffen viele, dass die Einnahmen durch das „schwarze Gold“ die Krise im Land beenden.
Viele andere sind jedoch besorgt: Da die politischen Eliten im Libanon notorisch korrupt sind, könnten die Öl- und Gasmilliarden das Land noch tiefer in die Krise stürzen. „Im Moment haben wir keine Garantie, dass sich dieses Geld nicht in Luft auflöst wie alles andere auch: die Reserven der Zentralbank, die Ersparnisse in den Banken – insgesamt sind es mehr als 100 Milliarden, die in den Taschen unserer politischen Mafia verschwunden sind“, sagt Diana Kaissy. Sie ist Expertin für Öl und Gas in Nordafrika und dem Nahen Osten, Mitglied im Beirat der Nichtregierungsorganisation Libanesische Öl- und Gasinitiative und im Exekutivrat der International Transparency Initiative.
Und es gibt noch ein weiteres Risiko: Die goldenen Strände von Naqoura könnten in Gefahr sein. „Dieser kleine Küstenabschnitt ist der einzige, der vom Beton verschont geblieben ist, und er ist entscheidend für viele Ökosysteme und Tierarten“, sagt Iffat Idriss, Gründerin der Meeresschutzorganisation Operation Big Blue. Zwei geschützte Schildkrötenarten sind auf die Sandstrände angewiesen, um ihre Eier abzulegen und sich fortzupflanzen. Delfine, Wale und sogar Mönchsrobben bevölkern eines der wenigen unberührten Gebiete an der libanesischen Küste. Diese ist zu 80 Prozent privatisiert und zubetoniert: Häfen, Hotels, Restaurants und Straßen wurden nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) aus der Erde gestampft, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Der Libanon will bis 2030 seine Emissionen um bis zu 30 Prozent senken
Die Risiken einer Offshore-Gasförderung sind vielfältig: „Wir befürchten Unfälle zwischen Fischern und Industrieschiffen, Gaslecks, Explosionen, die Verseuchung von Fischen und Lärm, der Delfine und Wale von unseren Küsten vertreiben wird“, sagt Idriss – bis hin zu den gefürchteten Ölkatastrophen wie die, die im vergangenen Sommer nach einem Unfall vor der Küste Israels die Strände im südlichen Libanon verwüstete. „Da der Rest des Libanon flussabwärts liegt, könnte ein kleiner Unfall die gesamte libanesische Küste kontaminieren.“
Zu allem Übel könnte die Industrie in den 20 Jahren ihres Betriebs 11 bis 18 Kilotonnen Treibhausgase freisetzen, heißt es in einer vom Umweltministerium in Auftrag gegebenen Umweltverträglichkeitsprüfung für das Jahr 2020. Dabei will der Libanon für das Pariser Klimaabkommen seine Emissionen bis 2030 um 15 bis 30 Prozent senken.
„Wir trauen der Regierung überhaupt nicht zu, die Umwelt oder ihre Bürger zu schützen“, sagt Idriss. Und das aus gutem Grund: Sie kämpft seit rund 30 Jahren gegen die umweltschädlichen Projekte des Staates. Im Libanon haben 60 Verbände eine Koalition zum Schutz der Natur und der Bürger:innen gebildet, die Libanesische Umweltbewegung. „Im Moment sind Gas und Öl neu für uns, wir wissen nichts darüber“, sagt sie. Die Aktivistin ist es eher gewohnt, Müllkrisen, unnötige Staudämme oder auch illegale Steinbrüche anzuprangern. „Wir werden uns gegen alles wehren, was das Mittelmeer weiter bedroht.
Der Libanon ist fast komplett von Erdöl abhängig
„Derzeit ist es wie ein Goldrausch: Jeder sieht Erdgas und Erdöl als Wunderlösung für all unsere Probleme“, sagt auch Expertin Kaissy. „Aber niemand aus der politischen Klasse hat sich gefragt, welcher Energiemix wirklich am besten für den Libanon geeignet ist.“ Sie glaubt, dass das Land viele andere Möglichkeiten hätte, die weit weniger riskant wären. „Wir sind das Land der Flüsse, der Sonne und des Windes. Wir könnten in jeder Region erneuerbare Energien entwickeln, das würde allen zugutekommen.“ Vor dem Bürgerkrieg kamen 70 Prozent der im Libanon genutzten Energie aus Wasserstaudämmen, jetzt hängt das Land zu 95 Prozent von Erdöl ab. Das heizt die globale Erwärmung an – die in der Region laut einem aktuellen Greenpeace-Report ohnehin doppelt so stark ist wie im globalen Durchschnitt.