Frankfurter Rundschau | 20.10.2022 | Magazin
Im Norden des Libanon breitet sich die Cholera aus. Die ersten Fälle wurden in Flüchtlingslagern in Akkar gemeldet, dort sind die Lebensbedingungen katastrophal. Eine Reportage.
Flüchtlingslager 045, Rihanye im Distrikt Akkar im Nordlibanon. Unser Tuk-Tuk folgt einer staubigen Spur durch Reihen von Treibhäusern, in denen Auberginen und Tomaten wachsen. Wir erreichen eine Hütte aus Holz und Nylonplanen: Hier leben ein halbes Dutzend syrischer Feldarbeiter. Sie sitzen draußen in der Oktoberhitze und trinken Kaffee, während Mitarbeiter:innen von regierungsunabhängigen Organisationen in blauen Sanitäranzügen damit beschäftigt sind, Wassertanks zu desinfizieren.
Sobald wir aus unserem Fahrzeug steigen, bitten sie uns um Anonymität und Vorsicht. „Es sind viele Fake News und Gerüchte im Umlauf“, warnt ein Freiwilliger. Dieser Ort ist von Geheimnissen umhüllt, und wir haben zwei Tage gebraucht, um den Weg hierher zu finden.
Hier wurde der erste Cholera-Fall im Libanon seit 1993 registriert. Es ist nicht leicht zu verstehen, was genau passiert ist, denn die Aussagen der Bewohner:innen und des Personals sind widersprüchlich. „Offenbar kam ein syrischer Flüchtling Mitte September hierher, um zu arbeiten. Vor ein paar Wochen litt er vier Tage lang an schwerem Durchfall, bevor er ins Krankenhaus ging – er hatte Angst, abgeschoben zu werden“, sagt ein NGO-Mitarbeiter der FR.
Choleraausbruch: „Libanon hatte früher das beste Gesundheitssystem der Region“
Das war am 1. Oktober. Der Patient wurde positiv auf Cholera getestet, geheilt und ein paar Tage später entlassen. Berichten zufolge bekam er von der Regierung und den internationalen NGOs zu viel Aufmerksamkeit, so dass er verängstigt die Region verließ.
Seitdem haben die libanesischen Gesundheitsbehörden, Stand Mittwoch, 89 Cholerafälle und zwei Todesopfer gemeldet. Mohammad Khadreen, Leiter des einzigen staatlichen Krankenhauses in Akkar, bestätigte in der vergangenen Woche, dass seine Dienststellen mindestens fünf Fälle behandelt haben. „Als der erste Patient bei uns eintraf, waren wir erschrocken – diese Krankheit ist neu für uns“, erzählt er. „Aber wir sind bereit und können bis zu 30 schwere Fälle aufnehmen. Es wird nur dann ein Problem werden, wenn es außer Kontrolle gerät.“

Das meint auch Ghassan Matar, Arzt und Professor für Mikrobiologie, Direktor des Kooperationszentrums der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an der American University of Beirut und Mitglied der globalen Cholera-Taskforce. „Als wir von dem ersten Fall hörten, waren wir erstaunt. Der Libanon hatte früher das beste Gesundheitssystem der Region, und jetzt haben wir einen Choleraausbruch. Das sagt viel über das Leben in verarmten Gebieten aus“, sagt er.
Bislang sind nur syrische Staatsangehörige im Libanon sowie eine libanesische Krankenschwester von der Krankheit betroffen. Das ist kein Zufall: Flüchtlingslager sind Orte, an denen Vibrio cholerae gedeihen und leicht eine Epidemie verursachen kann. Im Libanon leben ein bis zwei Millionen syrische Vertriebene, ein Drittel von ihnen in überfüllten Lagern, die vom Geflüchteten-Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCR) verwaltet werden.
Tote Tiere, Knochen und Plastikabfälle: Verdrecktes Wasser überträgt Cholera
In der Nähe des Lagers 045 fürchten sich Geflüchtete und Einheimische vor der Ausbreitung der Cholera. „Wer hätte keine Angst? Das Wasser hier ist so verschmutzt, dass es leicht die Cholera übertragen kann. Es wird das Obst und Gemüse infizieren, das wir essen“, sagt Ali Allouche*, ursprünglich aus Qusayr in Syrien. Wir setzen uns mit seinen Nachbar:innen in einem Zelt aus OHCR-Planen zusammen und trinken einen süßen Tee, während sie von ihrem Ärger erzählen.
„Wir haben das OHCR mehrmals gebeten, uns bei der Reinigung der überfüllten Latrinen zu helfen, aber sie sagten uns nur, wir sollten ein Loch graben. Als es sich füllte und wir um eine Müllabfuhr baten, wiesen sie uns die Schuld zu“, sagt Ali wütend. Außerhalb des Zeltes fließt das Abwasser auf die Felder. Tote Tiere, Knochen und Plastikabfälle bedecken den Boden rund um den notdürftigen Brunnen und seine benzinbetriebene Pumpstation, die die Geflüchteten mit Wasser versorgen.
Erschwerend kommt hinzu, dass medizinische Hilfe oft unerreichbar scheint. „Ich habe zwei Kinder mit Behinderungen – mein Sohn ist seit einem schlimmen Fieber in seiner Kindheit vollständig gelähmt. Es fühlt sich an, als würde er jeden Tag tausend Mal in meinen Händen sterben, wenn er stöhnt“, erzählt Assia*, eine Nachbarin.

Bei Cholera-Infektion können sich Menschen keinen Krankenhausaufenthalt leisten
Die einzige Hilfe, die sie erhält, kommt vom OHCR, das 500 000 Lira (etwa 12,50 US-Dollar) pro Kopf zahlt. „Ich kann es mir kaum leisten, das Zelt zu mieten und für den Strom zu bezahlen, sodass es unmöglich ist, einen Arzt aufzusuchen oder Medikamente zu kaufen“, sagt sie der FR.
Im Fall einer Cholera-Infektion könnte sich keiner der von uns Befragten den Krankenhausaufenthalt leisten, es sei denn, er würde vom OHCR übernommen. „Wenn sie nicht helfen und du kein Geld hast, lassen die Krankenhäuser dich vor ihren Türen sterben“, beklagt Assia. Darüber hinaus können sich viele Einheimische die Fahrt zum nächsten Krankenhaus nicht leisten, das oft Stunden entfernt ist.
Lebensbedingungen schlimmer als Cholera
Die Flüchtlingslager, die wir besuchen, gehören zu den marginalisiertesten Orten in Akkar, der ohnehin schon abgelegensten Region des Libanon. „Cholera ist nicht das Schlimmste, was uns passieren kann, wenn man sich unsere Lebensbedingungen ansieht“, kritisieren Hoda Ismail* und Amira Sattouf*, zwei syrische Mütter im benachbarten Lager 052. Dort sind die Kinder mit roten Pusteln am Körper bedeckt und bleiben aus Angst vor exorbitanten Arztkosten unbehandelt.
Der geschäftsführende Gesundheitsminister des Libanon, Firas Abyad, wies bei seiner Reise durch die Region zur Besichtigung von Lagern und Sanitäranlagen wenige Tage zuvor auf den „erschreckenden Rückgang“ der Grundversorgung in Akkar hin. Von den 145 Pumpstationen im Nordlibanon seien nur 22 mit staatlicher Stromversorgung ausgestattet, sagte er. Hundert Prozent der Flüsse in Akkar seien verschmutzt, berichtete ein Gesundheitsbeamter der Regierung weiter.
Immer wieder tödlich
Cholera ist eine in Kriegsgebieten weit verbreitete Krankheit. Die akute Durchfallerkrankung wird durch eine Infektion des Darms mit dem Bakterium Vibrio cholerae verursacht, das in verunreinigten und verschmutzten Gewässern vorkommt. Die Symptome sind oft leicht, können aber auch zu so schweren Fällen von wässrigem Durchfall führen, dass die erkrankte Person die Hälfte ihrer Körperflüssigkeit verliert, dehydriert, blau wird und innerhalb einiger Stunden stirbt.
Auf dem Papier ist die Cholera leicht zu heilen und zu verhindern. Eine einfache, in Wasser aufgelöste Rehydrierungslösung kann Leben retten, und verdünntes Chlor in kontaminiertem Wasser tötet Vibrio cholerae schnell ab. In Europa und Nordamerika ist die Krankheit seit Jahrzehnten ausgemerzt, doch in Kriegs- und Katastrophengebieten wie dem Jemen und dem Irak fordert sie weiterhin Menschenleben.
Syrien, Nachbarland des Libanon, ist ein solches Gebiet. Der zwölf Jahre währende Bürgerkrieg hat mehr als die Hälfte der sanitären und gesundheitlichen Infrastruktur in Trümmer gelegt. Dort ist eine Cholera-Epidemie ausgebrochen, die seit September mehr als 13 000 Fälle und fast hundert Menschenleben gefordert hat. Sie wurde durch die anhaltende Dürre verursacht, die einen großen Teil der Bevölkerung von unsicheren Wasserquellen wie dem verschmutzten Euphrat abhängig machte.
Derzeit wird untersucht , ob der Ausbruch der Krankheit im Libanon mit der Situation in den Nachbarländern zusammenhängt, da viele syrische Flüchtlinge informell die Grenze überqueren, um zu arbeiten oder ihre Familie zu besuchen. php
Der geschäftsführende Premierminister Najib Mikati hat eine Cholera-Taskforce einberufen und versprochen, die Epidemie zu bekämpfen. Es bleibt jedoch unklar, ob wirkliche Anstrengungen unternommen werden, um die Lebensbedingungen in den Lagern zu verbessern. Ein Grund dafür ist die von der Regierung angekündigte „freiwillige Rückkehr“ von Tausenden von Vertriebenen noch vor Jahresende – ein Schritt, der von Menschenrechtsorganisationen stark kritisiert wird. Außerdem schränkt die Wirtschaftskrise des Landes die Kapazitäten der Regierung und der Kommunen erheblich ein.
Nach Angaben der Weltbank befindet sich der Libanon in der weltweit schlimmsten Wirtschaftskrise seit 1850. Dazu gehören eine 100-prozentige Abwertung der Lira, eine Hyperinflation, die die Preise für Lebensmittel und Grunderzeugnisse in die Höhe getrieben hat. 82 Prozent aller Libanes:innen leben heute in mehrdimensionaler Armut. In Akkar liegt dieser Anteil sogar bei 92 Prozent. Die Region weist auch das niedrigste Durchschnittseinkommen, die höchste Arbeitslosenquote und viele andere traurige Rekorde auf.
Wirtschaftskrise ist Normalität: Tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat
„Was der Rest des Libanon als akute Wirtschaftskrise erlebt, war in Akkar von Anfang an Normalität: keine staatliche Stromversorgung, marode Straßen, kein fließendes Wasser … Einige Haushalte hatten erst vor wenigen Jahren zum ersten Mal in ihrer Geschichte Strom“, erklärt Nadine Saba, Gründerin und Leiterin des Akkar Network for Development (AND). Die örtliche NGO kümmert sich seit 2011 um alle Themen von geschlechtsspezifischer Gewalt bis hin zur Bildung von Kindern – jetzt hat sie auch Workshops zur Aufklärung der Gemeinden über Cholera ins Leben gerufen.
Die meisten Menschen empfinden hier ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat. „Die Regierung kümmert sich nicht um uns. Man muss blind sein, um den großen Unterschied zwischen Beirut und hier nicht zu sehen. Nicht einmal unsere eigenen Abgeordneten tun etwas für uns“, kritisiert Tarek Khodor Warde, ein Taxifahrer aus Halba, während wir durch Dörfer mit unbefestigten Straßen, unfertigen Gebäuden, aus denen Kabel herausragen, und Müllbergen am Straßenrand fahren. „Der libanesische Staat hat diese Region nicht nur vergessen, sondern völlig im Stich gelassen“, stimmt Saba zu.
Nicht viel Dankbarkeit für menschliches Opfer in Libanons Akkar
Die Vernachlässigung Akkars begann unter der osmanischen Verwaltung im 18. Jahrhundert und setzte sich während des französischen Mandats (1916-1943) und der Unabhängigkeit des Libanon im Jahr 1943 fort. „Die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik konzentrierte sich auf Beirut als Hauptwirtschaftszentrum, während Randgebiete wie Akkar, der Südlibanon und die Bekaa-Ebene für spätere Phasen überlassen wurden“, schreibt die Forscherin Aicha Mouchref in einem Bericht für die libanesische Hilfsorganisation Mada.
Das landwirtschaftlich geprägte Akkar war immer als ländliches Hinterland geplant. „Da die Großgrundbesitzer am meisten von gehorsamen und unterwürfigen Arbeitern profitieren, waren sie nicht daran interessiert, Bemühungen zu fördern, die den Landwirten mehr Macht geben oder die Region entwickeln könnten“, so Mouchref.

Und obwohl 70 Prozent der Haushalte in Akkar direkt für die Armee oder den Sicherheitsapparat des Staates arbeiten, haben sie nicht viel Dankbarkeit für ihr menschliches Opfer erfahren. In Akkar gibt es nur ein staatliches Krankenhaus, drei spezialisierte Universitäten und eine Müllabfuhr – bei einer Fläche von 788 Quadratkilometern und fast 400 000 Einwohner:innen, darunter ein Drittel syrische Flüchtlinge.
Erst Corona, dann Cholera: Hoffen auf langfristige Vision
„Trotzdem mag ich es nicht, wenn alle sagen, dass wir arm sind und auf uns herabschauen. Akkar ist eine reiche Region mit vielen atemberaubenden Naturschauplätzen, wie dem größten Wald des Libanon“, sagt Saba stolz, während sie uns Bilder von Seen, Bergen und dichten Wäldern zeigt. Für sie könnte der Ökotourismus ein wichtiger Hebel für die lokale Entwicklung sein, und in letzter Zeit sind viele Ecolodges entstanden.
„Wir brauchen dringend einen echten Plan für die nächsten 15 Jahre oder so, mit einer langfristigen Vision“, glaubt Saba. „Im Moment können wir nur Flickschusterei betreiben. Es ist wie bei Corona und Cholera: Wir rennen von einer Krise zur nächsten. Mit humanitärer Hilfe allein kann man weder eine Region entwickeln noch eine Epidemie bekämpfen“, seufzt sie.
*Namen geändert
Mitarbeit: Hussein al-Freij
