Frankfurter Rundschau | 11.07.2022 | Politik – Libanon

Ein Aktivist hängt ein Plakat auf, das für die Rechte von LGBTQ-Menschen wirbt. © AFP

Im Libanon sind queere Gruppen Repression durch Regierung und religiöse Autoritäten ausgesetzt. Es ist Teil einer langen Geschichte.

Tripoli – „Wir haben Angst. Unsere Regenbogensticker haben wir abgerissen, unsere Stimmen verändert, wir gehen sogar anders – alles, damit Leute uns nicht angreifen“, erzählt Hamad (25), ein nichtbinärer Mensch. Zusammen mit Kamal (23), einer a-gender Person (fühlt sich keinem Geschlecht zugehörig, d. Red.), sitzen wir in einem beliebten Café in Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Libanon.

Nur wenige Tage vorher haben dort 200 Menschen gegen Homosexualität demonstriert. Außerdem wurden viele Orte, an denen sich queere Menschen in Tripoli treffen, auf Facebook im Zusammenhang mit Gewaltandrohungen veröffentlicht. „Wir haben sofort angefangen, Asylbewerbungen ins Ausland zu schicken, denn es könnte ernst werden“, befürchtet Kamal.

Libanon – Repression von queeren Menschen

Queere Menschen erleben seit einigen Wochen eine Hetzkampagne, wie es sie in dem kleinen Mittelmeerland noch nicht gegeben hat. Alles begann am 25. Juni, als der Pride-Monat zu Ende ging. Innenminister Bassem Mawlawi wies seine Sicherheitskräfte „auf Anfrage von religiösen Autoritäten“ an, alle Veranstaltungen, die „widernatürliche Perversionen“ fördern, aufzulösen.

Gleichzeitig zerstörte die christlich-konservative Gruppe „Soldaten Gottes“ ein Regenbogenplakat der LGBTQ-Initiative „Beirut Pride“ im eigentlich als tolerant angesehen Viertel Achrafieh. Wegen der zahlreichen Gewaltandrohungen sagten LGBTQ-Organisationen eine spontane Demonstration zwei Tage später ab sowie eine ganze Reihe an Veranstaltungen. „Wir sind daran gewöhnt, jährlich während des Pride-Monats ins Visier des Staates und der religiösen Autoritäten zu kommen, aber dieses Mal ist es viel schlimmer“, sagt Colette Maalouf, Beauftragte für Interessenvertretung in der humanitären LGBTQ-Nichtregierungsorganisation (NRO) „Proud Lebanon“.

In Tripoli im Libanon hielt sich die Homophobie in Grenzen – bis jetzt

2018 wurde in Beirut zum ersten Mal in einem arabisch-muslimischen Land eine Pride-Parade veranstaltet – der Staat reagierte sofort und nahm den Organisator fest. Die Repressalien basieren auf einem Gesetz, das in der Zeit des französischen Mandats (1916-1946) verabschiedet wurde. Der berüchtigte Artikel 534 verbietet „widernatürlichen Geschlechtsverkehr“ und wurde oft von der Polizei und Justiz angewendet. Letztendlich sind aber die religiösen Autoritäten Auslöser der Repressionswelle. „Vor allem werden schwule Männer und transgender Frauen ins Visier genommen, weil sie die Vorstellungen von toxischer Männlichkeit stören“, erklärt Maalouf.

Die Homophobie hielt sich bisher aber in Grenzen – sogar in Tripoli, der konservativsten und gefährlichsten Stadt des Libanon. „Die Leute sind eigentlich tolerant, solange wir nicht auffallen. Wie alle anderen religiösen oder ethnischen Gemeinschaften koexistieren wir relativ friedlich“, erzählt Ali (22) in Tripoli. Das bestätigt auch Sarah Minkara, Inhaberin des hippen Cafés Ahwak, die Morddrohungen bekam, weil sie „Atheisten und Schwule“ beherberge. „Tripoli war immer ein offener Ort: In den 90er Jahren lief eine berühmte transgender Frau kostümiert durch die Straßen und wurde sogar von Macho-Typen eskortiert“, erinnert sie sich.

Libanon: Regierung nutzt queere Menschen als „Sündenbock“

Jetzt durchlebt das kleine Land mit knapp 6 Millionen Einwohner:innen eine Reihe von Krisen mit dramatischen Auswirkungen: den Krieg im Nachbarland Syrien und die „Flüchtlingskrise“, die Revolution im Oktober 2019, die darauffolgende Wirtschaftskrise und die Explosion im Hafen Beiruts im August 2020. Der gesellschaftliche Konservatismus ernähre sich aus diesen Ereignissen, sagt Minkara.

80 Prozent der Einwohner:innen des Libanon leben unter der Armutsgrenze und leiden unter der massiven Abwertung der Lira, der galoppierenden Inflation, und der mangelnden Stromversorgung. „Die Regierung benutzt uns als Sündenbock, um die Leute von ihren Taten abzulenken“, sagt Rasha (25), Mitgründerin eines anarchistischen Kollektivs.

Im Libanon kämpfen Aktivist:innen für die queere Community

Im Mai 2022 wurden mehrere Aktivist:innen der Zivilgesellschaft ins Parlament gewählt. Sie versuchen nun, ein Gesetz für die Zivilehe voranzutreiben – sowie die Abschaffung des Artikels 534. „Damit wäre die Homosexualität nur entkriminalisiert. Unsere Gegner befürchten aber, dass es zur Homoehe führen wird“, erklärt Colette Maalouf. „Deshalb kämpfen sie so erbittert zurück.“

Für Tarek Zeidan, Gründer des LGBTQ-Verbandes Helem, handele es sich „eine weltweite Offensive gegen die körperliche Selbstbestimmung und unsere Freiheiten“. „Und wir stehen immer in erster Linie“, sagt er. Damit meint er nicht nur die Einschränkung des Schwangerschaftsabbruchs und Antitransgender-Gesetze in den Vereinigten Staaten, sondern auch einen Gesetzesentwurf gegen Homosexualität im Irak.

„Die Leute meinen, wir würden Homosexualität und Atheismus aus dem Westen importieren“, sagt er. Dabei seien queere Identitäten in der libanesischen, arabischen und muslimischen Kultur und Geschichte verwurzelt. Für ihn seien Pride-Monate, Flaggen und Klubs zwar wichtig, aber „wir müssen nun erst richtig für unsere Rechte kämpfen und unseren eigenen Weg finden“. (Philippe Pernot)

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