Frankfurter Rundschau | 27. September | Reportage
Nach den israelischen Funkangriffen und inmitten der Raketen- und Bomben-Duelle versucht eine tief verstörte Bevölkerung irgendwie zu überleben.
Im Hof der Hotelfachschule Dekwaneh im Osten Beiruts sitzen Familien auf Plastikstühlen und unterhalten sich. Müde hören sich ihre Stimmen an. Die meisten sind erst vor ein paar Stunden angekommen, nachdem sie aus ihrer Heimat im Südlibanon fliehen mussten. Sie haben die gesamte Nacht im Stau gestanden. Freiwillige verteilen unter ihnen nun Wasserflaschen, Sandwiches und Saft. An einer Säule stehen zwei Vogelkäfige, in denen Kanarien laut zwitschern. „Ich habe sie mitgebracht, weil es falsch wäre, sie zurückzulassen – sie erstarren aus Angst, sobald sie die Explosionen hören. Außerdem wären sie gestorben, weil unser Haus gestern bombardiert und vollkommen zerstört wurde“, erzählt der 56-jährige Mahmud aus Aita al-Jabal, einem Dorf an der Grenze zu Israel.
Der Landarbeiter und seine elfköpfige Familie bekamen am Montagmorgen einen Anruf der israelischen Streitkräfte – sie sollten sofort die Gegend verlassen, riet ihnen das Armeekommando. „Ich habe meinen Kindern gesagt, sie sollen ihre Sachen einpacken, wir sind dann zusammen mit anderen Nachbarn mit fünf Autos losgefahren. Bomben landeten neben der Straße, aber Gott sei Dank kamen wir nach neun Stunden sicher in Beirut an.“ Mahmud bestreitet seinen Lebensunterhalt mit der Arbeit auf den Tabakfeldern um sein Haus. „Das Haus, die Felder, alles ist weg, wir haben alles verloren. Mein Bruder wollte nicht weg, er wurde beim Angriff verwundet, aber hat es überlebt und liegt gerade im Krankenhaus – bald kommt er zu uns nach Beirut.“ Mahmud seufzt: Was kann er jetzt tun?
Eine halbe Million Menschen sind aus dem Südlibanon und der Bekaa-Ebene geflohen, als Israel am Montag eine große Bombardierungskampagne gegen die Hisbollah begann, in der bislang um die 700 Menschen umgekommen sind und 2000 verletzt wurden. Die Israelis verlautbarten, sie hätten nun militärische Infrastruktur und mehr als 1300 Angehörige der Hisbollah neutralisiert, die seit dem 8. Oktober „solidarisch“ der Hamas in Gaza mit eigenen Attacken auf Israel zur Seite steht. Aus dem Süden kommen aber auch immer wieder Berichte, dass viele Zivilpersonen Opfer wurden und dass immer wieder auch Häuser, Moscheen und Krankenhäuser getroffen werden.
„Israel macht keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten, für sie sind wir alle schuldig“, meint Mahmud. „So ist das Leben eines Bürgers des Südens, der geboren wurde, um sein Haus von Israel zerstören zu lassen, nur um es wieder aufzubauen“.
Mehr als 70 000 der Geflüchteten aus dem Süden haben in Notunterkünften wie in der Hochschule in Dekwaneh Zuflucht gefunden. Die anderen sind bei Verwandten untergekommen – viele davon in Beiruts hauptsächlich schiitischen südlichen Vororten, wo die Hisbollah das Sagen hat. Dort gab es seit vergangener Woche sechs Luftangriffe auf Stellungen der Organisation, bei denen Dutzende von Milizionären, aber noch mehr Unbeteiligte umgekommen sein sollen. Seitdem reißen die Beerdigungen im „Märtyrer-Friedhof“ kaum noch ab, Tausende kommen dort zusammen. Nach den Funkangriffen durchlebt die libanesische Hauptstadt ein Wechselbad der Gefühle: Trauer, Schock, Furcht und Wut – an allen Ecken und Enden ist das spürbar.
Der Mittzwanziger Yahya Obeid ist Assistenzarzt und Anästhesist im al-Maqased-Krankenhaus im Süden von Beirut. Er war der einzige Diensthabende, als am 17. September 5000 Pager der Hisbollah gleichzeitig explodierten. „Zuerst glaubten wir an Gerüchte, weil es so weit hergeholt schien. Dann kamen die ersten sechs Patienten, dann ein Krankenwagen nach dem anderen, und es ging stundenlang so weiter – sehr schnell wurde das gesamte Krankenhauspersonal mobilisiert“, erinnert er sich. „In acht Stunden haben wir 250 Verletzte behandelt, auf den Fluren operiert. Ich habe noch nie so viel Blut gesehen; wir rutschten darauf aus.“
19 Personen wurden bei den Angriffen im gesamten Libanon sofort getötet. Von den fast 2500 Verletzten zählte man in Beirut allein schon um die 1850. Das sind die Zahlen, die das Gesundheitsministerium veröffentlichte. „Einige Patienten halluzinierten wegen des Schocks und der Schmerzmittel, einer von ihnen sagte mir, er sehe den Todesengel und den Propheten Mohammad unter uns gehen, das hat mich fast um den Verstand gebracht“, sagt Yahya Obeid. Neben Hisbollah-Aktiven waren ihre Angehörigen, Kinder und auch nur zufällig Umstehende oder Vorbeikommende unter den Opfern.
Obeid sagt, dass er seitdem immer mal wieder von Weinkrämpfen, Halluzinationen und tiefen Ängsten geplagt wird. „Seit meiner Kindheit spricht mein Vater von einer fast biblischen Konfrontation mit Israel, die unweigerlich stattfinden wird: Dieser Moment ist gekommen – wir leben mit dem nervtötenden Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit. Dass wir jeden Moment sterben können. Das ist erschreckend.“ Für die Älteren im Libanon ist Krieg nichts Neues: Sie haben den Bürgerkrieg (1975-1990), die israelische Besatzung (1976-2000) und den „Julikrieg“ (2006) zwischen der Hisbollah und Israel erlebt. Die neue Generation – die schon von der Hafenexplosion 2020 und der Wirtschaftskrise erschüttert wurde – erlebt aber jetzt ihren ersten Krieg.

Dissoziation, Angstzustände, Hypervigilanz, Schlaflosigkeit und posttraumatische Syndrome sind nur einige der Beschwerden, mit denen die Jugend des Landes im Zuge der israelischen Angriffe zu kämpfen habe, erklärt die Psychologin Aline Husseini. Ihrer Meinung nach wird es eine Weile dauern, bis die persönlichen Traumata zutage treten, aber das kollektive Trauma sei bereits jetzt unter den Leuten spürbar. „Diese Woche habe ich bei meinen Patientinnen und Patienten bemerkt, dass viele von ihnen nicht mehr den Wunsch haben, zu leben oder zumindest nicht mehr zu träumen. Das sind die Anzeichen einer kollektiven Depression“, erklärt sie. „Man kann in der libanesischen Gesellschaft nicht mehr von psychischer Belastbarkeit sprechen: Wir erleben eine Desintegration des sozialen Gefüges, jeder ist nur noch für sich selbst verantwortlich“.
Husseini schreibt dem Angriff auf die Kommunikation der Hisbollah eine hohe Symbolkraft zu: „Es gab ein Eindringen in den gesamten Gesellschaftskörper, er wurde vergewaltigt. (…) Es gibt eine Art Kastration, eine Amputation der Extremitäten des Körpers.“ Die Vereinten Nationen verurteilen, dass bei den Angriffen Zivilpersonen zu Schaden kamen. Amnesty International beschuldigt Israel, damit ein Kriegsverbrechen begangen zu haben. Viele im Libanon prangern abwechselnd ein „Massaker“ und einen „Terroranschlag“ an. So auch Jad Dilati, Menschenrechtsforscher und Regionalkoordinator der Minority Rights Group (Gruppe für Minderheitenrechte). Für ihn gibt es eine Kontinuität der psychologischen Kriegsführung, die Israel lange schon im Libanon betreibe: Überflüge von Drohnen und Kampfflugzeugen, SMS von der israelischen Armee, Flyer, angstmachende Rhetorik …
„Wir haben noch keine Bestätigung, aber ich würde sagen, dass der Angriff psychologische Ziele verfolgte“, glaubt Dilati. „Israel wollte der Hisbollah einen Schlag versetzen, der stark genug war, um einerseits die öffentliche Meinung gegen die Hisbollah aufzubringen und andererseits eine Wirkung in der Bevölkerung zu erzielen.“ Ob diese Strategie – so sie existiert – Erfolg haben wird, das bezweifeln viele. Dafür verbreitet sich immer mehr die Angst vor einem israelischen Einmarsch in den Südlibanon – und davor, dass der Libanon zum nächsten Gazastreifen wird.