Frankfurter Rundschau | 16. September 2024 | Magazin
Viele Felder sind zerstört, die Menschen, die sie bewirtschaften entweder getötet oder vertrieben. Doch inmitten der Bomben versuchen einige in Gaza hartnäckig ihre Landsleute zu ernähren.
Immer noch Pflanzen zwischen dem Schutt und den Trümmern – Auberginen, Tomaten, Paprika und Gurken trotzen Granaten, weißem Phosphor und Drohnen. Inmitten der israelischen Offensive, die mehr als 40 000 Menschen getötet und zwei Millionen zur Flucht gezwungen hat, ist dies ein kleines Wunder in Gaza.
Samir Khoder Ibrahim Mansi gehört zu den Menschen, die geblieben sind. Trotz der Bombardierungen kümmert sich der junge Landwirt immer noch um seine 8000 Quadratmeter Land, die in Deir el-Balah, im Zentrum des Gazastreifens, liegen. „Es gibt kein Gebiet, das nicht vom Krieg betroffen ist. Hundert meiner Olivenbäume wurden bombardiert“, erklärt er. Die Kommunikation ist schwierig, eine Umweltaktivistin aus Gaza übermittelt seine Sprachnotizen per Whatsapp, doch weder auf Netzverbindung noch Strom ist Verlass. „Gott sei Dank geht es uns noch besser als anderen, denn [die israelische Armee] hat nur kleine Dinge zerstört und nur einen Teil der Gewächshäuser getroffen – es könnte schlimmer sein“, fügt Mansi hinzu.
Jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen (UN) zufolge hat Israel 57 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Gazastreifen zerstört und mehr als 40 Prozent der Gewächshäuser mit Bomben oder Baggern dem Erdboden gleichgemacht. Das Ausmaß der Zerstörung ist im Norden des Streifens und in Gaza-Stadt weitaus größer, dort sind fast 90 Prozent der Gewächshäuser vernichtet. Nach Angaben der UN wurden zusätzlich 537 Scheunen, 484 Geflügelfarmen und 397 Schafhaltungen bombardiert, wodurch die Agrar- und Ernährungsinfrastruktur im Gazastreifen fast vollständig zerstört wurde.
Gaza: Landwirtschaft kommt inmitten der Offensive zum Erliegen
Tausende in der Landwirtschaft beschäftigte Menschen haben ihr Land und ihre Höfe bei den Bombenangriffen verloren. So auch die 55-jährige Ghifra Ahmad Abdelkhesi, Mutter und Landwirtin. „Seit fünfunddreißig Jahren war die Landwirtschaft mein Leben. Zusammen mit meinem Mann und unseren Kindern haben wir auf unserem Land gearbeitet. Alles, was wir aufgebaut haben, ist verschwunden, alles wurde zerstört … Unser Haus, unsere Feldfrüchte, die Farm unserer Tiere, alles“, berichtet sie via Whatsapp.

Stolz zählt sie das Obst und Gemüse auf, das früher von ihren Feldern kam: Okraschoten, gelbe und rote Wassermelonen, Tomaten, Mais, Paprika, Rüben, Auberginen, Mloukhiya (Gemüse-Korete) im Sommer; Gerste, Weizen, Kichererbsen, Spinat im Winter. „Es bleibt nichts übrig. Wir sind in das al-Aqsa-Krankenhaus in Deir el-Balah geflüchtet, und die Tiere, die wir retten konnten, sind verhungert. Wir haben Unkraut gepflückt, um sie zu füttern, aber das war nicht genug. Wir verhungern selbst“, sagt sie.
Damit hat die Zusammenbruch der Landwirtschaft in Gaza noch eine weitere Folge: die Hungersnot. Im Juni litten 95 Prozent der Menschen dort, also rund 2,15 Millionen Menschen, an der hohen Ernährungsunsicherheit. Dutzende Kinder sind bereits an Erschöpfung und Hunger gestorben; 50 000 sind davon bedroht. „Wir glauben, dass diese Zahlen stark unterschätzt werden, da das Ernährungssystem zusammengebrochen ist und 75 Prozent des Agrarsektors zerstört sind“, sagt Lisa Shahin, Leiterin für Forschung und Mobilisierung der Arabischen Naturschutzgruppe (APN), einer palästinensisch-jordanischen Umweltorganisation der Zivilgesellschaft.
„Schon vor dem Krieg setzte Israel den Hunger als Waffe gegen die Bewohner des Gazastreifens ein, um sie auf einem konstanten Erschöpfungsniveau zu halten, sie zu unterjochen und zu kontrollieren“, fügt sie hinzu. Vor dem 7. Oktober litten tatsächlich 65 Prozent der Menschen in Gaza an Ernährungsunsicherheit, und nicht nur die Landwirte waren durch die seit 2007 verhängte israelische Blockade eingeschränkt.
Hilfsgüter für den Gazastreifen werden blockiert
Seit dem Anfang der israelischen Gegenoffensive nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober ist die Blockade noch strenger geworden. UN-Beamte haben wiederholt beklagt, dass die Hilfslieferungen in den Gazastreifen rapide zurückgegangen sind, seit Israel am 6. Mai seine Militäroperation in der Grenzstadt Rafah begann, die zur Schließung des Grenzübergangs zu Ägypten führte. Seitdem bleiben nur zwei Eingangspunkte offen: die Checkpoints Kerem Shalom und Erez.
Dort häufen sich tonnenweise Hilfsmittel, die mangels Genehmigungen oder Koordination mit den israelischen Streitkräften nicht verteilt werden können. Im August verteilten laut der UN täglich nur 85 Lastwagen ihre Güter – im April waren es noch 169 Lkws, gegen 500 vor dem Krieg. „Die Abholung von Hilfsgütern an den Grenzübergängen ist aufgrund zahlreicher Hindernisse nahezu unmöglich“, sagte Farhan Haq, stellvertretender Sprecher des UN-Generalsekretärs António Guterres, Mitte August während einer Pressekonferenz. „Angesichts der anhaltenden schweren und aktiven Kampfhandlungen haben wir unsere Transporte in der Nacht eingeschränkt, um unsere Mitarbeiter so gut wie möglich zu schützen. Darüber hinaus sind die Straßen beschädigt, die israelischen Behörden verweigern uns routinemäßig den Zugang, den wir dringend benötigen.“
Zu gefährlichen Vorfällen kommt es regelmäßig – zuletzt etwa als israelische Streitkräfte zehn Mal ein gekennzeichnetes Fahrzeug des Welternährungsprogramms beschossen hatten, obwohl der Konvoi mit der Armee abgesprochen war.

Die UN-Behörde kündigte zuletzt in einer Erklärung an, den Transport seiner Angestellten durch den Gazastreifen bis auf weiteres auszusetzen. Israel öffnete eine Untersuchung und erklärte daraufhin den Vorfall mit einem Kommunikationsfehler. Die Beziehungen zwischen vielen UN-Behörden und Israel sind heikel geworden, Vorwürfe kommen von beiden Seiten.
„Die UN-Hilfsorganisationen haben keinen einzigen Lastwagen auf der Gaza-Seite von Kerem Shalom abgeholt. Etwa 575 Lkw warten auf ihre Abholung“, antwortete das COGAT, die israelische Instanz zur Koordinierung der Regierungsaktivitäten in den besetzten Gebieten, und beschuldigte die UN für die unzureichende Lieferungen.
Nicht nur Nahrungsmittel und Hilfslieferungen – auch die Einfuhr von landwirtschaftlichen Geräten ist vollständig stillgelegt. Die Menschen müssen sich mit dem begnügen, was die Bombenangriffe überlebt hat, und das zu horrenden Preisen. „Wir waren es gewohnt, 1000 Paprikasetzlinge für 100 Schekel (24 Euro) zu bekommen; für uns war das schon teuer. Heute kosten sie 500 Schekel (121 Euro)“, erklärt Samir Khoder Ibrahim Mansi. Diese Preise verringern die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Landwirtinnen und Landwirte. „Eine Ernte ist jetzt sehr teuer. Wenn man vor dem Krieg 1000 Dollar ausgeben musste, sind es jetzt 4000 oder 6000 Dollar“.
Hungersnot in Gaza: Teures Saatgut erschwert den Anbau von Gemüse vor Ort
In dieser schwierigen Situation versuchen einige lokale Organisationen zu helfen. Das in Amman ansässige APN, das auch Teams in Gaza hat, startete die Kampagne „Revive Gaza’s Farmland“ (Gazas Farmland wiederbeleben). „Wir stehen immer noch mit 500 Landwirten in Kontakt und konnten 162 von ihnen unterstützen. Wir versorgen sie mit Saatgut, vor allem mit Gemüse, um möglichst viele Menschen schnell zu ernähren: Gurken, Tomaten, Auberginen, Zucchini, Paprika …“, erklärt Lisa Shahin. Das APN hätte so 500 000 Gemüsesprossen, 900 kg Mloukhiya-Samen, 115 000 Auberginen- und Chilisamen auf insgesamt 40 Hektar im gesamten Gazastreifen neu angepflanzt.
„Meine Felder wurden zerstört, von den Brunnen bis zu den Anbauflächen. Die APN hat mir wieder auf die Beine geholfen, indem sie es mir ermöglicht hat, Auberginen von Grund auf neu anzupflanzen“, bezeugt ein Landwirt aus dem östlichen Gazastreifen – anonym, aus Angst vor israelischen Vergeltungsmaßnahmen. „Ich muss zweiundzwanzig Personen in meiner Familie ernähren. Ich behandle meine Pflanzen wie Kinder und kümmere mich um sie, aber wir sind von Trümmern und Raketenfragmenten umgeben. Wir brauchen Hilfe.“
Für Lisa Shahin ist diese Nothilfe nur ein erster Schritt, um das Schlimmste zu verhindern. „Sobald der Krieg vorbei ist, werden wir zwei weitere Etappen der Kampagne starten: Wir werden Fischern mit Netzen und der Reparatur ihrer Boote helfen, Brunnen wiederherstellen und Obstbäume pflanzen, um die 55 000 Bäume in Gaza-Stadt zu kompensieren, die von der Besatzung entwurzelt wurden. Dann werden wir die Viehzucht rehabilitieren und Bienenstöcke verteilen, wie wir es vor dem Krieg getan haben“, sagt sie.

Mitten im Krieg wird die Arbeit dieser Organisationen immer schwieriger. „Ich musste zweimal fliehen, und wir mussten unsere Büros wegen der Bombenangriffe verlegen“, sagt Mahmoud Alsaqqa, Programmmanager bei Oxfam in Gaza. Die neuen Büros der Organisation, die nach Deir el-Balah und Rafah verlegt wurden, dienen ebenfalls als Zufluchtsort. „Vor dem Krieg habe ich an einem Programm gearbeitet, das die Produktionskette der Bauern aufwertet, Qualität und Produktion verbessert und ihnen Zugang zu externen Märkten verschafft… Jetzt kämpfen wir um ihr Überleben“, sagt er am Telefon.
Oxfam verteilt Gutscheine und Bargeld für Dünger, Saatgut oder Nahrungsmittel. „Die Voraussetzung dafür, dass sie ihre Felder wiederbeleben können, ist vor allem, dass sie nicht verhungern. Das gibt ihnen wieder Selbstvertrauen und Lust zu kämpfen“, erklärt er. Aber die Bilanz fällt bisher nüchtern aus. „Von den 20 000 Landwirten, die es in Gaza gab, sind viele tot, verletzt oder vertrieben und weniger als zehn Prozent von ihnen können noch arbeiten“, meint Alsaqqa, der unter anderem die Zerstörung der berühmten Erdbeerfelder von Beit Hanoun, im Norden des Streifens, nachtrauert.
Israel streitet Angriffe auf Umwelt und Landwirtschaft ab
Solche Angriffe auf die Umwelt und Landwirtschaft widerlegen die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) und erklären, dass sie sich an das Völkerrecht halten und versuchen, die Schäden an landwirtschaftlichen Flächen und der Umwelt zu begrenzen. „Die Hamas operiert oft von Obstgärten, Feldern und landwirtschaftlichen Flächen aus“, erklärte ein Sprecher, der vom britischen „Guardian“ zitiert wurde. „Die Armee beschädigt landwirtschaftliche Flächen nicht absichtlich und bemüht sich, Auswirkungen auf die Umwelt zu vermeiden, wenn keine operative Notwendigkeit besteht“, fügte er hinzu.
Das bestreitet Alsaqqa. „Das ist ein Angriff auf unsere palästinensische Identität als Fellachin (Kleinbäuerinnen und Kleinbauern), auf unsere Olivenbaumkultur.“ Trotz des Ausmaßes der Zerstörung bleibt er optimistisch: „Die Palästinenser sind widerstandsfähig, wir werden durchhalten. Was wir brauchen, ist ein Waffenstillstand und die Aufhebung der Blockade.“ Und dass die Menschen in Gaza sich wieder selbst mit Gemüse versorgen können. „Ich glaube fest daran, dass wir das wieder schaffen werden. Die Landwirtschaft fortzusetzen, ist heute ein Akt der Subsistenz, aber auch des Widerstands.“