Frankfurter Rundschau | 25.03.2024 | Magazin

Im besetzten Westjordanland unterstützen landwirtschaftliche Kooperativen Menschen aus Gaza. Sie bieten Hoffnung und Arbeit, werden aber immer häufiger angegriffen.

Farkha – Die untergehende Sonne taucht die von Olivenhainen durchzogenen Hügel des Dorfes Farkha im besetzten Westjordanland in Orange und Rosa. Abu Ahmad steht auf dem Balkon und blickt auf den Horizont, der von israelischen Siedlungen übersät ist. „Es ist so anders als in Gaza“, seufzt er, bevor er in das Haus zurückkehrt, das er mit seiner Frau Um Ahmad und der ebenfalls aus Gaza stammenden Riwa bewohnt.

Alle drei sitzen seit dem 7. Oktober in der landwirtschaftlichen Region nördlich von Ramallah fest. „Ich war wegen einer Knieoperation in Ramallah, als der Krieg ausbrach, wir konnten nie nach Hause zurückkehren“, erklärt der etwa 40-jährige Mann mit müder Stimme und dunklen Augenringen. Alle drei stammen aus Khan Younes, einer Stadt im Süden des Gazastreifens, die seit dem 7. Oktober zu mehr als 50 Prozent von der israelischen Offensive zerstört wurde.

Abu Ahmad, Um Ahmad und Riwa empfangen im Wohnzimmer des Hauses, das ihnen vom Gemeinderat des Dorfes kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Der Ramadan steht vor der Tür, aber es gibt noch keine Lichterketten, die ihrer Unterkunft Leben verleihen würden. „Dieser Monat wird anders sein als alle anderen. Es wird keine Zeit der Freude sein, sondern der Trauer, der Tränen und des Blutes“, sagt Um Ahmad, und zeigt dabei Fotos ihres zerbombten Hauses. „Die Menschen in Farkha werden uns helfen und uns Gesellschaft leisten, aber ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, das Fasten fern von meinen Kindern zu brechen. Es ist zu schwierig“, flüstert sie.

Ramadan fern der Familie: Um Ahmad (links) und Riwa aus dem Gazastreifen sitzen seit dem 7. Oktober in Farkha im besetzten Westjordanland fest. © PHILIPPE PERNOT

Leben in den besetzten Gebieten ist alles andere als einfach

Nach Kriegsbeginn haben die israelischen Behörden die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen von rund 18.500 Menschen aus Gaza blockiert, die erst verhaftet und später ins Westjordanland abgeschoben wurden. Die Gemeinde Farkha nahm fünf gestrandete und staatenlose Menschen aus Gaza in einem großen leerstehenden Haus auf. „Sie versorgen uns mit allem, was wir brauchen“, sagt Um Ahmad. Ihre vier Kinder hingegen leben dicht gedrängt in einem Zelt in Rafah, im Süden des Gazastreifens.

„Sie sind alle krank, leiden an Anämie, Hunger, Kälte und haben nur schmutziges Wasser“, seufzt die Mutter. „Ahmad hat 15 Kilo abgenommen und seine Leber leidet unter der schlechten Qualität des Essens“, sagt sie besorgt. In Farkha stehen Gebäck und Fatayer (Spinattaschen) auf dem Tisch, aber niemand hat Appetit. „In Gaza sind schon mehrere Kinder an Hunger gestorben“, sagt Riwa, ohne laut auszusprechen, dass sie um das Überleben ihrer Familie fürchtet. Auch sie war für eine chirurgische Operation nach Jerusalem gekommen, als die Hamas den Süden Israels überfiel, woraufhin alle Grenzen und Straßen für die Palästinenser:innen aus Gaza und dem besetzten Westjordanland gesperrt wurden.

Da sie nicht nach Khan Younes zurückkehren konnte, kam sie – wie Abu und Um Ahmad – auf Anraten von Beschäftigten der Palästinensischen Autonomiebehörde, die effektiv etwa 18 Prozent des Westjordanlandes regiert, nach Farkha. „Die Solidarität der Menschen ist groß, trotz der Schwierigkeiten, mit denen auch sie konfrontiert sind“, sagt Riwa. Angriffe von Siedlern, blockierte Straßen, Aktionen der israelischen Armee, Wirtschaftskrise und Straßensperren aufgrund militärischer Checkpoints: Das Leben in den besetzten Gebieten ist alles andere als einfach. Die Menschen aus Gaza, die dorthin geflüchtet sind, aber auch diejenigen, die ihnen helfen, sind von Verhaftungen und Abschiebungen bedroht.

Das basisdemokratische Dorf im Westjordanland zieht Freiwillige aus der ganzen Welt an

„Wir können wegen der Besatzung nicht nach Gaza gehen, um den Menschen dort zu helfen, aber wir können sie zumindest bei uns aufnehmen – selbst wenn wir ein Risiko eingehen“, sagt Mostafa Hamad, der kommunistische Vorsitzende des Gemeinderats, mit Überzeugung. „Schließlich sind wir alle Kinder Palästinas“, fährt er fort. Das Dorf, in dem 1800 Menschen leben, ist bekannt für seine linke Verankerung und basisdemokratische Ausrichtung, sein jährliches Landfest, das Hunderte Freiwillige aus der ganzen Welt anzieht, und für seine landwirtschaftliche Genossenschaft.

„Wir haben sie 2004 gegründet, um unsere Oliven nach biologischer und traditioneller Art zu produzieren – und gleichzeitig von unserer Tätigkeit leben zu können“, erklärt der 32-Jährige. Im Lauf der Jahre kamen ein landwirtschaftlich-ökologischer Bauernhof und eine Seifenmanufaktur hinzu. Farkha erklärte sich anschließend zum „Ökodorf, das im landwirtschaftlichen Widerstand verankert ist“, so Mostafa Hamad.

Die Region.
Die Region. © dpa/FR

Es war daher naheliegend, den Neuankömmlingen aus Gaza anzubieten, bei der Olivenernte im Oktober und November vergangenen Jahres mitzuhelfen. „Es hat meinem Mann wirklich gutgetan, trotz der anstrengenden Arbeit und der Schmerzen in seinem Bein“, sagt Um Ahmad. Die Kooperative in Farkha zahlte ihm ein Gehalt, ein Segen für den seit seinem Unfall vor 18 Jahren Arbeitslosen, und wird ihn auch weiterhin im Rahmen eines vom Partnership Youth Forum initiierten Programms beschäftigen.

„Wir haben die Mittel aufgebracht, um etwa 20 Menschen aus Gaza in unseren Feldern eine Lohnarbeit zu geben“, erzählt Rami Masad, der Koordinator der palästinensischen Jugend- und Bauernorganisation. „So haben sie ein Einkommen und sind in diesem extrem schwierigen Ramadan nicht isoliert, während ihre Familien entweder durch Bomben dezimiert werden oder verhungern“.

Landwirtschaft spielt im Westjordanland eine wichtige Rolle

Tatsächlich spielt die Landwirtschaft eine wichtige Rolle in den Solidaritätsnetzwerken des Westjordanlandes. „Die Agrargenossenschaften sind Teil des palästinensischen Widerstands und gerade während des Ramadans besonders wichtig, weil sie es den Palästinensern ermöglichen, auf israelische Produkte zu verzichten und zu unserer eigenen Ernährungssouveränität beizutragen“, sagt Rami Masad auf einem Bauernmarkt in Ramallah, den seine Organisation zweimal im Monat mit veranstaltet. 80 Prozent des Obstes und Gemüses im Westjordanland werden aus Israel importiert, das die palästinensischen Märkte mit billigeren und wettbewerbsfähigeren Produkten überschwemmt.

Ein unfreiwilliges, einseitiges Geschäftsmodell, das der palästinensischen Landwirtschaft Ressourcen entzieht. „Es ist wichtig für mich, unsere Bauern zu unterstützen und lokale und Bio-Produkte zu kaufen, denn das ist Teil des Widerstands“, sagt Samia, eine IT-Angestellte in Ramallah, während sie frische Salatköpfe, Kräuter und Gemüse kauft. Acht Bauerngenossenschaften bieten ihre lokalen Erzeugnisse an, darunter die Om Sleiman-Frauen-Kooperative aus Bil’in, ein Dorf im Westen Ramallahs. Dima, 23, studiert Grafikdesign und arbeitet zusätzlich zwei Tage pro Woche auf dem Feld. Heute steht sie hinter dem Markttisch. „Wir haben schon fast alles verkauft, es gibt eine starke Nachfrage“, sagt sie. „Solche Märkte sind wichtig, um uns mit anderen Kooperativen und Organisationen zu vernetzen.“

Artischockentreibhaus: Grafikdesign-Studentin Dima arbeitet zwei Tage pro Woche in der Kooperative Om Sleiman in Bil’in mit. © PHILIPPE PERNOT

Auf dem „Um-Sleiman-Bauernhof in Bil’in wachsen auf 1.4 Hektar grün-bunte Gemüsesetzlinge, Kräuterbüschel und Obstbäume, umgeben von der Betonarchitektur der israelischen Siedlung Modi’in Illit. 1994 auf palästinensischem Land gegründet, wohnen hier heute 81 000 Menschen. Die israelische Regierung erkannte die Siedlung 2008 als Stadt an – entgegen internationalem Recht. Durch den Bau der Trennmauer wurden noch mehr Gebiete von Bil’in und vier weitere Dörfer beschlagnahmt – was für jahrelange Proteste sorgte. 2009 tötete die israelische Armee einen jungen Mann in Bil’in, eine Gedenktafel am Eingang des Bauernhofes erinnert an ihn.

Die exotischen Gärten mit Guaven und Drachenfrucht, die Treibhäuser mit Tomaten und Auberginen stehen nur einige hundert Meter von der Mauer und der Siedlung entfernt. Wie das Land dieses Bauernhofes gehört die große Mehrheit des Westjordanlandes seit den Osloer Abkommen von 1994 zur „Area C“ unter israelischer militärischer Kontrolle und kann somit jederzeit besiedelt werden.

„Der Anblick der Siedlung macht mich meistens wütend, vor allem der ständige Lärm der Bauarbeiten nervt. Wir leben in Angst, eines Tages vom Beton geschluckt zu werden“, seufzt Dima. Sie sitzt mit ihren Freund:innen von der Kooperative um das Lagerfeuer, das an diesem regnerischen Frühlingstag ein wenig Wärme spendet. Khalil, 30, sitzt neben ihr und nickt. „Indem wir auf diesem Land bleiben, leisten wir schon Widerstand gegen die Besatzung“, sagt der junge Schauspieler, Video- und Musikproduzent, der wie Dima an einigen Tagen der Woche auf dem Bauernhof arbeitet.

„Ich arbeite für Palästina, für meine Gesellschaft“

Der Om Sleiman-Bauernhof zieht Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund an: Kunstschaffende, Aktivist:innen, Tänzer:innen, Studierende, die zu ihren Wurzeln zurückkehren möchten. So wie Khalil, der manchmal hier aushilft. Seine Vorfahren waren alle Fellachen – Kleinbauern, die auf traditionelle Art von der Erde lebten. „Es fühlt sich gut an, zurück zum Land gekommen zu sein. Ich arbeite für Palästina, für meine Gesellschaft“, sagt er mit Stolz. Während die Menschen Unkraut und Gras entfernen, singen sie palästinensische Lieder, alte und moderne. Sie sind Teil einer gebildeten und weltoffenen palästinensischen Generation, die im Schatten der Trennmauer mit Arbeitslosigkeit und in einer politisch schwierigen Situation aufwächst. Viele finden zwischen den Treibhäusern und den Gemüseplantagen einen Zufluchtsort – und kreieren neue Wege für die palästinensische Landwirtschaft.

So auch Adham, Sihem und Samer, drei junge Universitätsabsolvent:innen, die im Nachbardorf Safa 2017 ihre eigene Kooperative und Gärtnerei gründeten. „Wir pflanzen alles biologisch an und folgen einer koreanischen Methode“, erklärt Samer. Der Kompost wird mit Wasser und Mist vermischt und dann als natürliches Düngemittel eingesetzt. Die Setzlinge kommen aus Sihems Gärtnerei, wo sie traditionelle und lokale Saatgüter pflegt. In Palästina müssen Kooperativen einer präzisen Struktur folgen, die seit der ersten Intifada 1987 immer weiterentwickelt wurde, um die palästinensische Selbstständigkeit zu fördern.

„Wir haben Hilfe von verschiedenen Organisationen bekommen, dann alle ein Anfangskapital von 200 Schekel (umgerechnet 50 Euro) eingebracht und teilen uns seitdem den Gewinn unserer Arbeit“, berichtet Samer. Die Kooperative verkauft ihre Produkte direkt an Nachbar:innen und Freunde und spart sich so viele Kosten.

Israelische Armee geht mit gnadenloser Härte vor

Die Treibhäuser und die Gärtnerei stehen in einem Tal in der Nähe des Dorfes, aber die andere Hälfte ihres Grundeigentums liegt direkt an der Trennmauer – dort ist es für sie gefährlich, ihre Arbeit fortzusetzen. „Vor dem 7. Oktober hatten wir manchmal Probleme mit der Armee, aber seit dem Krieg ist es unmöglich geworden, länger als eine Stunde dort zu bleiben – dann erschießen sie uns“, empört sich Adham.

Mit dem Gemeinschaftsauto der Kooperative fahren wir trotz der Gefahr zu den Feldern, die jetzt brachliegen. „Sie liegen in der Zone C, wir dürfen nichts bauen, weder Brunnen noch eine Hütte, und können die Pflanzen nicht mehr bewässern“. Die Gegend gleicht dem biblischen Paradies – weit und breit erstrecken sich terrassierte Olivenhaine, Blumenwiesen blühen unter der sanften Frühlingssonne. Die Trennmauer ist hier nicht aus Beton, sondern nur ein Gitter, das nicht besonders bedrohlich wirkt. Wenn wir uns zu lange im Gebiet aufhalten, kommen aber Soldaten – deswegen müssen wir bald wieder in Richtung Safa aufbrechen.

Schwieriges Terrain: Obst und Gemüse wachsen nur wenige hundert Meter von der Trennmauer und den israelischen Siedlungen entfernt. © PHILIPPE PERNOT

Während in Gaza bislang mehr als 31.000 Menschen bei der israelischen Gegenoffensive getötet wurden, nehmen auch im besetzten Westjordanland die Spannungen weiter zu. Seit dem 7. Oktober wurden mehr als 420 Menschen getötet und 7500 von der Armee inhaftiert. In den Großstädten Tulkarem, Jenine und Nablus kommt es fast jeden Tag zu Kämpfen zwischen der israelischen Armee und jungen Männern.

Aber auch auf dem Land ist die Lage bedrohlich: Angriffe durch bewaffnete Siedler:innen haben seit dem Krieg zugenommen, sowie Razzien der Armee in kleinen Dörfern. Am Tag zwischen den Besuchen der Frankfurter Rundschau in Safa und in Bil’in wurde im Nachbardorf Kufr Naame – wo ebenfalls eine junge landwirtschaftliche Kooperative aktiv ist – ein 16-jähriger Junge von israelischen Soldat:innen erschossen, obwohl er laut Berichten unbewaffnet war. So beleben während des Ramadans weder Musik noch Lichterketten die Straßen, es herrschen stattdessen Stille und Angst. (Philippe Pernot)

Leave a comment