Frankfurter Rundschau | 28. September 2023 | Magazin

Die Küsten im Libanon sind zu 80 Prozent privatisiert. Das wollen viele Menschen nicht hinnehmen – und erobern sie als öffentliche Orte zurück.

Ein Panzerkonvoi der Blauhelme donnert zwischen Bananenplantagen und türkisblauem Meer entlang. Die UNIFIL-Truppe der UN, die die Grenze zwischen Israel und dem Libanon patrouilliert, hat den kleinen Strand von Iskandarouna kaum bemerkt, an dem ein paar Einheimische baden, Wasserpfeife rauchen und ihr Grillgut zubereiten. In dieser Oase der Ruhe, nur wenige Kilometer vom Stacheldraht der Grenze entfernt, wird eine Schlacht der besonderen Art ausgetragen.

„Wie Sie sehen, haben die Eigentümer des Grundstücks auf dem Strand eine massive Mauer bis ins Meer gebaut, um uns den Zugang zu versperren – das ist völlig illegal“, empört sich der Umweltaktivist Ibrahim Safieddine. Nur wenige Meter von den Badenden entfernt türmen sich Felsen, die offensichtlich von einem Bulldozer umgedreht wurden. Die Eigentümer versuchen augenscheinlich den Küstenabschnitt zu privatisieren – wohl um Profit zu machen, meint Ibrahim. „Dies ist ein öffentlicher Strand mit historischem Interesse, da Alexander der Große hier vorbeigekommen sein und der Heilige Petrus in diesen Gewässern gefischt haben soll. Dieses Erbe muss geschützt werden“, sagt der junge Mann, der als Fotograf arbeitet und sich ehrenamtlich bei den Jnoubiyoun Khodor („Grünen Südländern“) engagiert, einer Umweltschutzorganisation im Südlibanon.

Der Libanon und Israel, die sich seit den israelischen Invasionen von 1976, 1982 und 2006 offiziell immer noch im Krieg befinden, unterzeichneten im vergangenen Jahr ein Abkommen um ihre Seegrenze abzustecken – und nach Erdgas bohren zu können. Seitdem bereitet sich die gesamte Region auf einen Wirtschaftsboom vor. „Man hört, dass sie überall Hotels, Pipelines und Gasinfrastrukturen bauen wollen“, warnt Ibrahim. Diese wirtschaftliche Entwicklung könnte dazu führen, dass die letzten Kilometer der libanesischen Küste, die noch frei sind, zerstört werden. Rund 80 Prozent sind bereits privatisiert.

Am Strand von Iskandarouna hatten die Arbeiten schon begonnen, bis die Aktivist:innen intervenierten. „Wir haben eine Kampagne in den sozialen Netzwerken durchgeführt, um den Minister für Verkehr und öffentliche Arbeiten, Ali Hamié, anzusprechen – der das Projekt auf Eis gelegt hat. Jetzt wissen wir nicht, wie es weitergeht“. Viele Hoffnungen macht sich Ibrahim nicht: „Sie können machen, was sie wollen, es gibt keine Regeln.“

Damit meint er jene Politiker:innen und Geschäftsleute, deren Familien im Libanon seit dem Bürgerkrieg (1975-1990) großen Einfluss ausüben. Im Fall des Strandes von Iskandarouna ergänzt ein Aktivist, der lieber anonym bleiben möchte, dass es sich um einen reichen Eigentümer handele, der der Amal-Bewegung nahestehen soll. Diese ehemalige Kriegsmiliz, die zu einer schiitischen und ultrakonservativen, politischen Partei geworden ist, gehört Nabih Berry, dem Präsidenten des libanesischen Parlaments. „Ein Sprichwort besagt, dass im Südlibanon niemand ohne seine Zustimmung ein Grundstück kaufen oder ein Geschäft eröffnen kann“, so der Mann.

Diese Vorgehensweise ist im Libanon weit verbreitet: Das Land steht unter dem Einfluss eines konfessionellen politischen Systems, das aus dem französischen Mandat (1916-1943) übernommen wurde. Einige religiös geprägte Familien, die aus der Kolonialzeit oder dem Bürgerkrieg hervorgegangen sind, üben politische und wirtschaftliche Macht aus. Viele investieren dabei in Hotels und Resorts an den Küsten.

„Dabei besagt ein Gesetz aus dem Jahr 1925, dass die gesamte Küste öffentlich ist und nicht privatisiert oder gar mit Beton bebaut werden darf“, erklärt Mohammad Ayoub, „aber die Eliten haben dieses Gesetz seit dem Bürgerkrieg mit Dekreten gebrochen und Bauvorhaben genehmigt“.

Der Mitbegründer der Organisation Nahnoo („Wir“) empfängt uns in seinem Büro in Beirut, in dem ein Gemälde eines malerischen Hafendorfes hängt. Laut seinen Studien haben 1108 Unternehmen oder Einzelpersonen Küstengebiete illegal für sich beansprucht.

Auch andere Orten sind gefährdet. So hat Nahnoo den einzigen öffentlichen Park Beiruts vor der Zerstörung bewahrt – und leitet inzwischen eine Beobachtungsstelle für Gesetzesverstöße in Zusammenarbeit mit anderen Vereinigungen. „Die Menschen müssen wissen, dass der Zugang zu öffentlichen Räumen ein Recht ist, und wir wollen, dass diese Geschäftsleute zweimal darüber nachdenken, bevor sie irgendetwas privatisieren!“.

Abbas Baalbaki.

Eine halbe Autostunde von Iskandarouna entfernt versuchen die Grünen Südländer, ein Naturschutzgebiet nördlich der antiken Stadt Tyros zu errichten. Noch weist nichts auf den Zugang hin und man muss durch Laubwald und über Dünen wandern, bevor man den Sandstrand von Abbassieh erreicht. „Das ist einer der wichtigsten Eiablageplätze für Meeresschildkröten, da sie hier vor der visuellen Verschmutzung geschützt sind: Der Strand ist den Touristen nicht bekannt und wird ziemlich verschont“, erklärt Fatima Jaafar, eine Lebensmittelingenieurin, die sich für den Aufbau des Reservats einsetzt. Zwei vom Aussterben bedrohte Schildkrötenarten, die unechte Karettschildkröte und die Grüne Meeresschildkröte, kommen jeden Frühling hierher, um ihre Eier abzulegen. Darüber hinaus beherbergt das Küstengebiet viele seltene Blumen und Tierarten.

„Der Plastikmüll wird durch die Meeresströmungen aus Palästina oder sogar Ägypten herangetragen und tötet schließlich die Schildkröten, die ihn mit Quallen verwechseln und fressen“, berichtet Fatima, die durch die Wellen läuft und den angeschwemmten Plastiktüten und Limonadendosen ausweicht. Nicht nur Plastik gefährdet die Tiere. Manche Anwohner kämen mit Geländewagen oder sogar auf Pferden an den Strand und drohten, die empfindlichen Nester der Schildkröten und ihre Eier zu zerstören.

Um das Gebiet sowohl davor als auch vor einer möglichen Bebauung zu schützen will der Verein seit 2016 ein Naturschutzgebiet einrichten. 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz dazu, seitdem stagniert der Prozess.

Krieg bleibt die andere Bedrohung für Menschen und Natur. Die Konflikte zwischen Israel und dem Libanon hatten damals die Umwelt verwüstet – Tretminen sind heute noch in der Landschaft versteckt. „Sie töten vor allem Wild- und Nutztiere“, erklärt Abbas Baalbaki, einer der Leiter der Organisation. Auch die Bauarbeiten machen ihm Sorge: „Die Israelis zerstören mit ihren Baggern weiterhin die Natur an der Grenze.“

Hinzu kam eine Reihe von Ölverschmutzungen. Im Jahr 2021 hatte ein Schiff Hunderttausende Tonnen Bitumen an der israelischen Küste verloren und die Strände von Naqoura bis Tyros in einem Zug verseucht. „Wir waren unter den Ersten vor Ort, nur mit Handschuhen und Schaufeln, während die politischen Parteien und die Regierung nichts taten“, erinnert sich Ibrahim Safieddine. 80 Kilometer nördlich von Tyros hatte diese Ölpest sogar den einzigen öffentlichen Strand von Beirut, Ramlet el-Bayda („Weißer Sand“), getroffen.

Maguy Najem.
Maguy Najem. © Philippe Pernot

„Seit dem Ende des Bürgerkriegs erhalten wir diesen Strand und schützen dort Meeresschildkröten: Öffentliche Räume sind ein Grundrecht für Natur und Menschen“, sagt Iffat Idriss, Mitbegründerin von Operation Big Blue und Cedars for Care. Beide Organisationen verwalten Ramlet el-Bayda offiziell seit 2003, säubern die Küste und betreiben Aufklärungsarbeit.

Trotz ihrer Arbeit leiten seit 2008 zwei große Abwasserkanäle ihren Müll an den Strand. Die Helfer:innen decken sie mit Bambus und Binsen ab, um die Verschmutzung zu absorbieren. Das Meer ist durch den Rest der Stadt so vergiftet, dass Baden verboten ist. Doch die Menschen aus Beirut baden weiter – am einzigen kostenlosen Strand, der ihnen noch geblieben ist.

Selbst hier wurde der Bau eines Luxushotels nur mit viel Mühe verhindert. Das Ziel von Operation Big Blue ist es daher, Ramlet el-Bayda zu einem UNESCO-Schutzgebiet zu machen, sowohl für die Tier- und Pflanzenwelt als auch die Anwohner:innen. „Es wird ein Prototyp für das Ministerium sein, das dreißig ähnliche Strände im ganzen Libanon schaffen will – und ein Sensibilisierungszentrum“, hofft Idriss. In der Zwischenzeit säubern Freiwillige und Vereinsmitarbeiter den Strand täglich und sorgen für das Wohlergehen seiner Besucher:innen, sowohl Menschen als auch Tiere.

Während einige Küstenabschnitte in Beirut und im Süden des Libanon bald unter Naturschutz stehen werden, läuft der Bauwahn im Norden auf Hochtouren. Batroun, einst ein malerisches Fischerdorf, hat sich in ein Musterbeispiel der Tourismusindustrie verwandelt – auf Betreiben des Politikers Gebran Bassil, Chef der Freien Patriotischen Strömung.

Überall schossen Shoppingmeilen, Luxusrestaurants und Privatgrundstücke aus dem Boden. „Diesen Sommer hat der Investorenwahn alle Rekorde gebrochen, jeder will alles besitzen“, sagt Maguy Najem, eine Umweltaktivistin und Erzieherin aus Batroun. Die Küste wird in der gesamten Region von illegalen Bauten in Beschlag genommen, doch der bekannteste Fall ist der Strand von Abu Ali in der angrenzenden Gemeinde Kfar Abida. Die kleine paradiesische Bucht aus Sand und Kieselsteinen ist Maguys „zweites Zuhause“: „Ich komme seit meiner Kindheit fast jeden Tag hierher, um Zeit am Meer zu verbringen“, erzählt sie. Eines Tages fand sie dort eine Betonhütte vor – und dann einen Zaun, der den Zugang zum Strand zu versperrte.

„Das war in den 2000er Jahren, aber wir kamen fast zwanzig Jahre lang an der Hütte vorbei und gelangten über das Brachland daneben zur Bucht“, erklärt sie und deutet auf den weißen, rostigen Metallzaun. „Dann wurde 2018 das Land oberhalb des Strandes von Leuten aufgekauft, die das Haus am Strand nutzen, sicherlich in der Annahme, dass es ihnen automatisch gehört.“

Von da an nahm der Streit um den Strand an Intensität zu. Die Eigentümer bauten eine Mauer, um den Zugang vollständig zu blockieren. „Wir haben sofort die Behörden alarmiert, die den Bau gestoppt haben.“ Es entwickelte sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Behörden und Eigentümern. Bis Letzere am 1. April 2023 mit neuen Bauarbeiten begannen, „um Terrassen, Bungalows und touristische Einrichtungen am ganzen Strand zu errichten – ein Versuch, den Strand zu privatisieren“, empört sich Maguy. „Das war inakzeptabel: Die Menschen in diesem Land brauchen öffentliche Räume und nicht noch eine weitere Sunset-Bar für Touristen“.

Ein Verein hält Beiruts letzten frei zugänglichen Strand sauber.
Ein Verein hält Beiruts letzten frei zugänglichen Strand sauber. © Philippe Pernot

Maguy und ihre Freunde verbündeten sich mit den Grünen Südländern sowie mit Nahnoo. Ihre gemeinsame Kampagne, „Strand für alle“, brachte Bürger:innen und Aktivist:innen aus Nord und Süd zusammen, über politischen und konfessionellen Grenzen hinweg. „Alles ging sehr schnell, es war unglaublich kraftvoll und anstrengend zugleich“, sagt Maguy stolz.

Mit Erfolg: Die Aktivist:innen erhielten Unterstützung von den Ministern, die das Ende der Arbeiten anordneten – sowie den Abriss der Betonhütte. „Wir haben dafür gesorgt, dass sie jedes Stück Beton zerstören, damit wir den Strand später säubern können – und jeden weiteren Versuch einer Privatisierung verhindern“, sagt Maguy. Das aktivistische Bündnis untersucht derzeit sechs weitere illegale Bauten am Meer. „Wir haben überall Beschwerden von Bürgern erhalten, also setzen wir den Kampf fort, aber uns fehlen die Mittel und wir dürfen kein Burnout bekommen“, warnt Maguy. Ihr Kampf um die Küsten geht weiter – immerhin mit etwas Rückenwind.

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